Der Prinz von Atrithau
denn seine Gutmütigkeit kam eher aus Einsicht als aus Nachsicht, als könnte er durch den wilden Sturm von Gedanken und Leidenschaften auf den unschuldigen Ruhepunkt einer jeden Seele schauen. Und seine Worte! Seine Vergleiche, die sich der Wirklichkeit bemächtigten und sie von innen her verbrannten!
Achamian dachte mitunter, Kellhus besitze, wonach alle Menschen – wie der Dichter Protathis einmal gefordert hatte – streben sollten: die Geschicklichkeit des Triamis, den Verstand des Ajencis und das Herz des Sejenus.
Und andere dachten genauso.
Jeden Abend nach dem Essen sammelten sich Männer und Frauen aus allen Nationen um das Lager des Xinemus. Manchmal riefen sie nach Kellhus, meist aber blieben sie unter sich. Anfangs waren es nur wenige, dann mehr und mehr, bis sie eine Versammlung von etwa drei Dutzend Seelen waren. Bald schon ließen die Gefolgsleute des Marschalls viel Platz zwischen ihren runden Zelten und dem Pavillon ihres Anführers, um nicht mit Fremden zu Abend essen zu müssen.
Etwa eine Woche lang ignorierten alle, auch Kellhus, diese Fremden nach Kräften und nahmen an, das werde sie bald vertreiben. Wer setzte sich schon Abend für Abend ungebeten hin und sah anderen dabei zu, wie sie sich am Lagerfeuer entspannten? Aber sie harrten aus wie kleine Brüder, die sich die Zeit nicht zu vertreiben wissen. Sie wurden sogar noch sehr viel mehr.
Aus einer Laune heraus nahm Achamian eines Abends zwischen ihnen Platz und schaute, wohin sie schauten, um zu verstehen, was sie dazu brachte, sich so zu verhalten. Zuerst nahm er nur vertraute Gestalten wahr, die ein Feuer erhellte und hinter denen eine Mauer aus Dunkelheit stand. Cnaiür saß mit gekreuzten Beinen und einem narbenübersäten Rücken da, der so breit war wie die Fächer der Ainoni.
Hinter ihm und auf der anderen Seite des Feuers saß Xinemus auf seinem Klappstuhl. Er hatte die Hände auf den Knien, und sein viereckiger Bart streifte seine Brust, als er über eine Bemerkung von Esmenet lachte, die neben ihm kniete und sicher gerade etwas Boshaftes über irgendwen gesagt hatte. Er sah Dinchases, Zenkappa und Iryssas. Und Serwë, die sich gerade mit dem Rücken auf ihre Matte legte, die Knie zusammenschlug und aufs Unschuldigste ihre warmen und verheißungsvollen Glieder sehen ließ. Und neben ihr saß Kellhus – heiter und golden.
Achamian sah sich nun an, wer im Dunkeln um ihn herumsaß. Es waren Männer und Frauen des Stoßzahns aus allen Ländern und Ständen. Einige hockten zusammen und unterhielten sich miteinander, doch die meisten saßen einzeln da wie er und ließen den Blick über die Gestalten im Hellen wandern, als mühten sie sich, bei ersterbendem Kerzenlicht zu lesen. Sie wirkten… verzaubert – wie Fische, die ein blitzender Köder nicht wegen seiner Helligkeit, sondern wegen des Dunkels ringsum angezogen hat.
»Warum sitzt du hier?«, fragte Achamian seinen Nebenmann, einen blonden Tydonni mit den Unterarmen eines Soldaten und den klaren Augen eines Adligen.
»Siehst du denn nicht?«, gab der Mann zurück, ohne ihn anzuschauen.
»Was?«
»Ihn.«
»Du meinst Prinz Kellhus?«
Der Mann sah ihn mit einem freudestrahlenden und zugleich mitleidigen Lächeln an. »Du bist zu nah dran«, sagte er. »Darum kannst du nicht sehen.«
»Was denn?«, fragte Achamian kurzatmig.
»Er hat mich mal berührt«, gab der Mann zurück, ohne auf Achamians Frage einzugehen. »Das war vor Asgilioch. Ich stolperte auf dem Marsch, und er hielt mich am Arm und sagte: ›Streif doch deine Sandalen ab und verwandle die Erde in eine nackten Fußes problemlos begehbare Welt.‹«
Achamian lachte. »Das ist ein alter Witz«, erklärte er. »Du musst den Boden verflucht haben, als du gestolpert bist.«
»Ach ja?«, entgegnete der Mann und zitterte geradezu vor Zorn.
Achamian runzelte die Stirn und lächelte beruhigend. »Es handelt sich da um ein uraltes Sprichwort, das uns daran erinnern soll, unsere Fehler nicht auf andere zu schieben.«
»Das stimmt nicht«, sagte der Mann gereizt.
Achamian zögerte. »Was bedeutet es dann?«
Ohne ihm zu antworten, wandte der Mann sich ab, als überließe er Achamian und seine Frage absichtlich dem Nirwana seines Unwissens. Der Hexenmeister musterte ihn einen ausgedehnten Moment lang verblüfft und seltsam bestürzt. Wie konnte Zorn Wahrheit verbürgen?
Er stand auf und klopfte sich den Staub von den Knien.
»Es bedeutet«, sagte der Mann nun von hinten zu ihm, »dass wir die Welt vollkommen
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