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Der Prinz von Atrithau

Der Prinz von Atrithau

Titel: Der Prinz von Atrithau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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wir, wenn wir nicht nur sehen, sondern das, was wir wahrnehmen, auch beurteilen. Du hast etwas gesehen und es beurteilt. Ein Verbrechen wurde begangen, eine Unschuldige ermordet. Das hast du gesehen.«
    »Ja!«, fauchte der Mann. »Ein kleines Mädchen wurde ermordet. Ein kleines Mädchen!«
    »Und nun leidest du.«
    »Aber warum bloß?«, rief er ratlos. »Ich hab doch gar nichts mit dem Mädchen zu tun. Sie war eine Heidin!«
    »Überall sind wir umgeben von Gesegnetem und Verfluchtem, Heiligem und Profanem. Doch unser Herz ist wie unsere Hände: Es entwickelt eine Hornhaut gegen die Zumutungen der Welt. Und doch bekommt selbst das unempfindlichste Herz wie unsere Hände Blasen, wenn es überarbeitet ist oder von etwas Neuartigem wund gerieben wird. Eine Zeit lang spüren wir den Schmerz, beachten ihn aber nicht, weil wir so viel zu tun haben.« Kellhus hatte auf seine rechte Hand hinuntergesehen. Plötzlich ballte er sie zur Faust und hob sie. »Und dann reicht ein Schlag mit dem Hammer, ein Hieb mit dem Schwert, und die Blase bricht auf – unser Herz ist zerrissen! Und dann leiden wir, weil wir den Schmerz der Gesegneten und der Verfluchten spüren. Dann sehen wir nicht länger, sondern dann legen wir Zeugnis ab…«
    Seine leuchtend blauen Augen ruhten weise auf dem namenlosen Ritter.
    »Das ist es, was dir geschehen ist.«
    »Ja… Ja! Aber was soll ich tun?«
    »Freue dich.«
    »Freuen? Aber ich leide!«
    »Ja, freue dich! Die schwielige Hand kann die Wange der Geliebten nicht spüren. Wenn wir Zeugnis ablegen, übernehmen wir Verantwortung für das, was wir sehen. Und wer das tut, fühlt sich zugehörig und nicht mehr fehl am Platz.«
    Plötzlich erhob sich Kellhus, sprang von der niedrigen Tribüne und stand mit zwei gewaltigen Schritten in ihrer Mitte. »Macht euch da keine Illusionen«, fuhr er mit ungemein eindringlicher Stimme fort. »Diese Welt besitzt euch. Ihr alle gehört ihr, ob ihr wollt oder nicht. Warum leiden wir? Warum nehmen die Todunglücklichen sich das Leben? Weil die Welt – wie verflucht sie auch sei – uns besitzt. Weil wir dazugehören.«
    »Sollen wir also das Leiden feiern?«, rief jemand herausfordernd.
    Prinz Kellhus lächelte und blickte in die Dunkelheit. »Dann ist es kein Leiden mehr, oder?«
    Die kleine Versammlung lachte.
    »Nein«, fuhr Kellhus fort, »feiert nicht das Leiden, sondern die Bedeutung des Leidens. Freut euch daran, dazuzugehören – nicht daran, dass ihr leidet. Denkt daran, was der Letzte Prophet uns lehrt: Die Herrlichkeit kommt in Freud und Leid. In Freud und Leid!«
    »Ich sehe… sehe die Weisheit Eurer… Eurer Worte, Prinz«, stammelte der namenlose Ritter. »Wirklich, aber…«
    Irgendwie konnte Achamian seine Frage spüren: Was gibt es dabei zu gewinnen?
    »Du sollst nicht sehen«, sagte Kellhus. »Du sollst bezeugen.«
    Der Ritter hatte ein verdutztes Gesicht, und seine Augen wirkten verzweifelt. Er blinzelte, und zwei silberne Tränen liefen ihm über die Wangen. Dann lächelte er, und nichts – so schien es – konnte herrlicher sein.
    »Damit ich…« Seine Stimme zitterte und brach. »Damit…«
    »Damit du eins wirst mit der Welt, in der du lebst«, sagte Kellhus. »Und damit du einen Bund mit dem Leben schließt.«
    Die Welt… Du wirst die Welt gewinnen, dachte Achamian, sah auf sein Pergament und merkte, dass er aufgehört hatte zu schreiben. Er drehte sich um und blickte Esmenet hilflos an.
    »Keine Sorge«, sagte sie. »Ich vergesse das schon nicht.«
    Natürlich nicht.
    Esmenet: der zweite Pfeiler seines Friedens – und der bei weitem mächtigere von beiden.
    Es schien so seltsam wie passend, inmitten des Heiligen Kriegs fast ehelich zu leben. Jeden Abend brachen sie – erschöpft von Kellhus’ Gesprächen oder von Xinemus’ Lagerfeuer – zu einem Spaziergang auf, hielten dann Händchen wie frisch Verliebte und sinnierten, stritten oder lachten über die Ereignisse des Tages. Dann bahnten sie sich einen Weg durch die Zeltschnüre, und Achamian zog die Leinwand mit gespielter Ritterlichkeit beiseite. Schon beim Ausziehen streichelten sie sich und hielten einander dann im Dunkeln – als seien sie zusammen mehr als das, was sie waren: Ein Mann, der seine Worte, und eine Frau, die ihren Körper verkaufte.
    Die weite Welt war ihm nur noch schattenhaft präsent. Im Laufe der Zeit dachte er immer weniger an Inrau, umso mehr aber an Esmenet und Kellhus und daran, welche Bedeutung sie für sein Leben hatten. Sogar die Gefahr der Rathgeber

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