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Der Prinz von Atrithau

Der Prinz von Atrithau

Titel: Der Prinz von Atrithau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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ungesagt machen, aber die Kälte war so unnachgiebig…
    So wahr.
    Ich halte mich bloß an die Heiligen Schriften!, dachte Proyas.
    Wenn man Gottes Wort nicht vertrauen konnte und nicht zuhören wollte, wandelte sich alles in Skepsis und gelehrten Disput. Xinemus hörte auf sein Herz, und das war seine Stärke und seine Schwäche zugleich, denn das Herz rezitiert keine Heiligen Schriften.
    »Gut«, sagte der Marschall mit schwacher Stimme. »Ihr braucht Euch um Kellhus nicht mehr Sorgen zu machen als um mich.«
    Proyas kniff die Augen zusammen und nickte.
     
     
    Es gab die Notwendigkeit weiterzumarschieren, und auch die Richtung war klar. Doch es gab kaum etwas Aufschlussreicheres, als mitunter innerlich Inventur zu machen.
    Es war Nacht geworden. Kellhus saß auf einem Felsvorsprung, an eine frei stehende Zeder gelehnt. Vom Wind im Laufe der Jahre nach Osten ausgerichtet, fegten ihre Äste den Sternenhimmel und gabelten sich dann erdwärts, als wären sie an Schnüren mit dem Panorama unter ihnen vertäut: mit dem Lager des Heiligen Kriegs, mit Hinnereth hinter seinen gewaltigen Steingürteln und mit dem Meneanor-Meer, dessen ferne Brecher im Mondschein silbern glänzten.
    Aber er nahm nichts von alledem wahr.
    Das Gemurmel, das ihn erreichte, galt aktuellen Verheißungen und Gefahren. Außerdem wurden Zukunftsszenarien diskutiert.
    Es gab diese Welt Eärwa, die in den Ketten der Geschichte, der Sitten und Gebräuche und eines animalischen Hungers lag und von der Vergangenheit gewaltsam vorangetrieben wurde.
    Es gab Achamian und all das, wovon er erzählt hatte: die Apokalypse, die Stammbäume der Kaiser und Könige, die Adelsfamilien und Orden der Großen Gruppen und das Spektrum der Krieg führenden Nationen. Und es gab die Hexenkunst, die Gnosis und die Aussicht auf fast unbegrenzte Macht.
    Es gab Esmenet mit ihren schlanken Schenkeln und ihrem scharfen Intellekt.
    Es gab Sarcellus und die Rathgeber und eine stets gefährdete Waffenruhe, die sich der Rätselhaftigkeit der Lage und dem Zögern der Protagonisten verdankte.
    Es gab Saubon, dessen Qualen seiner Gier nach Macht im Wege standen.
    Es gab Cnaiür mit seinem Wahnsinn, seinem kriegerischen Genie und seinem Wissen, das eine stets größere Gefahr bedeutete.
    Es gab den Heiligen Krieg, Glaubenseifer und Begehren.
    Und es gab seinen Vater.
    Was würdest du mir in dieser Situation raten?
    Er ventilierte rasend schnell potentielle Welten, die sich immer weiter verzweigten, bis er unter einer gewaltigen Baumkrone von Möglichkeiten saß.
    Namenlose Ordensmänner kletterten einen steilen, steinigen Strand hinauf. Eine Brustwarze zwischen den Fingern. Ein keuchender Orgasmus. Ein gegen die grelle Sonne geschleuderter Kopf. Gestalten, die aus dem Morgendunst marschiert kamen.
    Eine tote Frau.
    Kellhus machte einen tiefen Atemzug und genoss die bittersüße Geruchsmixtur aus Zeder, Erde und Krieg. Ja, es gab Offenbarungen.

10. Kapitel
     
    DAS HOCHLAND VON ATSUSHAN
     
     
     
    Liebe ist Lust, die Bedeutung erlangt hat. Hoffnung ist menschlich gewordener Hunger.
     
    Ajencis: Dritte Analyse des Menschengeschlechts
     
     
    Wie erlernt man Unschuld? Wie lehrt man Unwissen? Wer unschuldig oder unwissend ist, weiß ja nichts davon. Und doch sind Unschuld und Unwissen die Fixpunkte, auf die der Kompass des Lebens ausgerichtet ist. Sie sind der Maßstab jedes Verbrechens und jeder Leidenschaft, aller Weisheit und Narrheit. Sie sind das Absolute.
     
    Aus den Imprompta
     
     
     
    IM LANDESINNEREN VON GEDEA, SPÄTSOMMER 4111
     
    Der Frieden hatte Einzug gehalten.
    Achamian hatte so viel vom Krieg geträumt, wie es nur ein Ordensmann der Mandati konnte. Er war sogar Zeuge von Kriegen gewesen, denn im Gebiet der Drei Meere entzündeten sich Streitigkeiten so schnell wie unter Betrunkenen. Aber er hatte nie einem Krieg angehört und war nie marschiert wie jetzt, da er inmitten tausender Ritter, muhender Ochsen und unzähliger, mit Sandalen beschuhter Füße unter der Sonne Gedeas schwitzte. Ob im Rauch, der den Horizont verdunkelte, oder im Klang der Hörner, im Rummel des Lagers oder in Brandruinen und Leichenblässe – in allem manifestierte sich der Krieg. Genau wie in seinen Alpträumen, in denen er vergangene Schrecken durchlebte, die doch die dunkle Zukunft vorwegnahmen. Überall nichts als Krieg.
    Und doch hatte irgendwie der Frieden Einzug gehalten.
    Und dann war da natürlich noch Kellhus.
    Seit Achamians Entschluss, seinem Orden nicht von Kellhus zu

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