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Der Prinz von Atrithau

Der Prinz von Atrithau

Titel: Der Prinz von Atrithau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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»Pst!« zum Schweigen und hielten die bellenden Hunde im Zaum. In den Jahrhunderten seit der Eroberung durch die Kianene waren die Shigeki fromme Fanim geworden, doch sie waren ein altes Volk, das noch alle seine Grundherren überlebt hatte. In den kriegerischen Figuren, die zornig von den verfallenden Mauern starrten, erkannten sie sich längst nicht mehr wieder. Stattdessen reichten sie den Besatzern Bier, Wein und Wasser, damit sie ihren Durst löschen konnten, und Zwiebeln, Datteln und frisch gebackenes Brot, um ihren Hunger zu stillen. Manchmal boten sie ihnen sogar ihre Töchter an. Ungläubig schüttelten die Männer des Stoßzahns den Kopf und riefen, dies sei ein Land der Wunder. Manche fühlten sich sogar an ihren ersten Besuch auf dem Stammsitz ihrer Vorväter erinnert – an das seltsame Gefühl also, an einen Ort zurückzukehren, an dem man noch nie gewesen war.
    Im Traktat war Shigek oft erwähnt, wenn auch nur als ferne Gefahr, die selbst damals schon nicht mehr aktuell war. Paradoxerweise litten einige Inrithi gerade darunter, dass die Gegend ihren schlimmen Erwartungen so gar nicht entsprach, und verrichteten ihre Notdurft in den Fluss oder unter Bäumen und schlugen nach Stechmücken. Das alte Kulturland erschien ihnen schwermütig, und wenn es auch fruchtbarer sein mochte als viele andere Gegenden, so empfanden sie es doch nicht als außergewöhnlich. Die meisten Inrithi hingegen beobachteten bei sich ein Gefühl der Ehrfurcht. Wie heilig der Text ihrer Offenbarung auch war: Die Worte waren doch eigentümlich blass geblieben, solange sie nicht von Anschauung begleitet waren. Nun aber begriff jeder auf seine Weise, dass heilige Schriften erst auf Wallfahrten Welthaltigkeit gewinnen.
    Und das heilige Shimeh schien zum Greifen nah.
    Dann stieß Cerjulla, ein Graf aus Ce Tydonn, auf das ummauerte Chiama. Da die Stadtväter wegen einer Braunfäule im Vorjahr eine Hungersnot fürchteten, wollten sie die Tore erst öffnen, wenn sie Garantien erhalten hatten. Statt zu verhandeln, ließ Cerjulla seine Männer die Mauern einfach stürmen, was ihnen keinerlei Schwierigkeiten bereitete. Und als sie in der Stadt waren, metzelten sie alle Einwohner nieder.
    Zwei Tage später ereignete sich in Jirux – der großen Flussfestung gegenüber der am Südufer des Sempis gelegenen Stadt Ammegnotis – ein weiteres Massaker. Offenbar hatten die dort von Skauras zurückgelassenen Shigeki-Truppen gemeutert und ihre Offiziere – durchweg Kianene – ermordet. Als Uranyanka, der berühmte Pfalzgraf von Moserothu, mit seinen Rittern eintraf, ergaben sich die Meuterer, wurden aber sofort zusammengetrieben und hingerichtet. Wie der Pfalzgraf später Chepheramunni erzählte, könne er Heiden zwar ertragen, wenn sie aber obendrein Verräter seien, vermöge er keine Nachsicht zu üben.
    Am Morgen darauf befahl Gaidekki, der ungestüme Pfalzgraf von Anplei, einen Ort namens Huterat anzugreifen – wohl, weil sein stets betrunkener Dolmetscher die Kapitulationsbedingungen der Stadt falsch übersetzt hatte. Als die Tore erstürmt waren, liefen Gaidekkis Soldaten Amok und vergewaltigten und töteten, was ihnen unterkam.
    Als besäße Mord eine unheilvolle Eigendynamik, artete die Besetzung des Nordufers durch den Heiligen Krieg darauf in ein schamloses Gemetzel aus, ohne dass klar war, warum. Womöglich hing es mit Gerüchten über vergiftete Datteln und Granatäpfel zusammen. Womöglich zog Blutvergießen einfach Blutvergießen nach sich. Womöglich aber war Glaubensgewissheit so schön wie erschreckend – und was konnte diese Gewissheit eindrucksvoller manifestieren als die Zerstörung alles Falschen?
    Die Nachricht von den Gräueltaten der Inrithi verbreitete sich unter den Shigeki wie ein Lauffeuer. Vor dem Altar und auf den Straßen behaupteten die Priester der Fanim, der Einzige Gott bestrafe sie dafür, die Götzendiener willkommen geheißen zu haben. Bald verbarrikadierten sich die Shigeki in ihren großen gewölbten Gotteshäusern, versammelten sich mit Frauen und Kindern jammernd auf ihren weichen Teppichen, schrien ihre Sünden heraus und baten um Vergebung, bekamen aber nur das Donnern der Rammböcke zur Antwort. Kurz darauf starben sie unter den Hieben ungerührter Schwertkämpfer.
    Jedes Gotteshaus am Nordufer des Sempis erlebte ein Massaker. Die Männer des Stoßzahns metzelten die reuigen Sünder nieder, traten ihre Dreifüße über den Haufen, schlugen ihre marmornen Altäre in Stücke, rissen ihre Wandteppiche

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