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Der Prinz von Atrithau

Der Prinz von Atrithau

Titel: Der Prinz von Atrithau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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einem Feuer…«
    Martemus hielt den Atem an und hatte das Gefühl, ihm schlage Hitze entgegen.
    »… vor dem Feuer der Wahrheit!«, rief Prinz Kellhus, als nenne er jemanden beim Namen, den jeder kannte. »Der Wahrheit darüber, wer ihr seid…«
    Seine Stimme schien sich zu einem Chor vervielfacht zu haben.
    »Ihr seid schwach. Ihr seid allein. Die euch lieben, kennen euch nicht. Ihr giert nach Obszönitäten. Ihr fürchtet noch den nächsten Bruder. Ihr versteht viel weniger als ihr vorgebt.
    Schwach, allein, unerkannt, gierig, angsterfüllt und verständnislos seid ihr. Selbst jetzt könnt ihr spüren, wie diese Wahrheiten brennen. Selbst jetzt…«, rief er und hob die Hand, als wollte er die schweigenden Zuhörer zu noch größerem Schweigen anhalten, »… verzehren sie euch.«
    Er senkte die Hand. »Doch ihr werft euch nicht zu Boden…«
    Seine glitzernden Augen fielen auf Martemus, dem es die Kehle zuschnürte und der spürte, wie er rot wurde.
    Er durchschaut mich, dachte der General.
    »Aber warum nicht?«, fragte der Prinz, und seine Stimme schien durch einen alten, unergründlichen Schmerz verzerrt. »In der Qual, die euch dieses Feuer bereitet, ist Gott zu finden. Und in Gott ist Erlösung. Ihr alle habt den Schlüssel der Erlösung in Händen. Ihr kniet schon vor dem Feuer! Doch noch immer werft ihr euch nicht hinein. Ihr seid schwach. Ihr seid allein. Die euch lieben, kennen euch nicht. Ihr giert nach Obszönitäten. Ihr fürchtet noch den nächsten Bruder. Und ihr versteht viel weniger als ihr vorgebt!«
    Martemus verzog das Gesicht. Diese Worte hatten ihm einen Schmerz aus den Eingeweiden bis in die Kehle steigen lassen und erinnerten ihn an etwas Vertrautes, das ihm zugleich seltsam fremd war. Es geht um mich, dachte er plötzlich – er spricht über mich!
    »Will das einer von euch leugnen?«
    Stille. Irgendwo weinte jemand.
    »Aber ihr leugnet es doch!«, rief Kellhus wie ein Liebender, der sich einem unfassbaren Treuebruch gegenübersieht. »Ihr alle! Ihr kniet, zugleich aber betrügt ihr. Ihr betrügt das Feuer eures Herzens! Ihr äußert Lüge über Lüge und behauptet lauthals, dass dieses Feuer nicht die Wahrheit ist; dass ihr stark seid; dass ihr nicht allein seid; dass euch die, die euch lieben, sehr wohl kennen; dass ihr nicht nach Obszönitäten giert; dass ihr euren Bruder in keiner Weise fürchtet; dass ihr alles versteht!«
    Wie oft hatte Martemus also gelogen? Martemus, der Praktiker. Martemus, der Realist. Aber wie konnte er praktisch und realistisch sein, wenn er genau wusste, wovon Prinz Kellhus sprach?
    »Doch in euren stillen Momenten klingt dieses Leugnen hohl, nicht wahr? In euren stillen Momenten spürt ihr den Schmerz der Wahrheit und erkennt, dass euer Leben nur eine Farce, nur Mummenschanz ist. Und ihr weint! Ihr fragt euch, was in eurem Leben falsch läuft. Und ihr ruft: ›Warum kann ich nicht stark sein?‹«
    Er sprang mehrere Stufen herunter.
    »Warum kann ich nicht stark sein?«
    Martemus schmerzte die Kehle, als wäre er es gewesen, der diese Worte ausgerufen hatte.
    »Warum ihr nicht stark sein könnt?«, fragte der Prinz nun leise und sagte dann: »Weil ihr lügt.«
    Martemus sagte sich gebetsmühlenhaft, der, dem er hier zuhöre, sei nur ein Mensch.
    »Ihr seid schwach, weil ihr Stärke vortäuscht.« Die Stimme klang nun seltsam körperlos und flüsterte heimlich in tausend glühende Ohren. »Ihr seid allein, weil ihr unaufhörlich lügt. Die euch lieben, kennen euch nicht, weil ihr euch verstellt. Ihr giert nach Obszönitäten, weil ihr eure Lust verleugnet. Ihr fürchtet euren Bruder, weil ihr euch vor dem ängstigt, was er sieht. Ihr begreift wenig, weil ihr, um etwas zu lernen, zugeben müsstet, dass ihr nichts wisst.«
    Prinz Kellhus hält mein ganzes Dasein in seiner offenen Hand, dachte Martemus unwillkürlich.
    »Ist euch dieses Trauerspiel bewusst?«, fragte der Prinz flehentlich. »Die Heiligen Schriften heißen uns, gottgleich zu sein – also mehr zu sein als wir sind. Und was sind wir? Schwache Menschen mit mürrischem und neidischem Herzen. Unsere Lügen sind das Leichentuch, an dem wir ersticken. Wir bleiben schwach, da wir uns unsere Schwäche nicht eingestehen können.«
    Es schien, als wäre das Wort »schwach« vom Himmel geschleudert worden und stammte aus dem Jenseits. Einen Moment lang war der, der es ausgesprochen hatte, kein Mensch mehr, sondern der Vorschein von etwas viel Größerem. »Schwach« – dieses Wort schien nicht von einem

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