Der Prinz von Atrithau
warteten, Kellhus’ ersten Vortrag seit dem Eintreffen in Shigek zu hören. Vor ihm ragte der alte Xijoser auf, der Große Ziggurat – ein gewaltiger, in steilen Stufen ansteigender Bau aus poliertem schwarzem Gestein, der so massiv war, dass Martemus das leise Bedürfnis spürte, sein Gesicht zu verhüllen und sich bäuchlings in den Staub zu werfen. Flussabwärts erstreckte sich die üppig bewachsene Ebene des Sempisdeltas mit ihren vielen kleineren Zigguraten, mit Kanälen, Schilfsümpfen und endlosen Reisfeldern. Die Sonne stand weiß am Wüstenhimmel.
Ringsum schwatzten und lachten Männer und Frauen. Eine Zeit lang sah Martemus dem Pärchen vor ihm dabei zu, wie es sich ein bescheidenes Mahl aus Brot und Zwiebeln teilte. Dann fiel ihm auf, dass die Leute um ihn herum seinem Blick sorgsam auswichen. Er vermutete, seine Uniform und sein blauer Umhang, die ihn wie einen Adligen erscheinen ließen, ängstigten sie, sah von einem besorgten Nachbarn zum anderen und überlegte, was er sagen könnte, um sie zu beruhigen. Aber er brachte es nicht fertig, das Wort an sie zu richten.
Tiefe Einsamkeit ergriff ihn. Er dachte erneut an Conphas.
Dann sah er den Prinzen die gewaltige Treppe des Xijoser hinuntersteigen. Er wirkte klein und war noch weit weg. Martemus lächelte, als begegnete er auf einem fremden Marktplatz zufällig einem alten Freund.
Was wird er wohl sagen?
Als Martemus erstmals zu den Imprompta gekommen war, hatte er angenommen, diese Unterredungen seien entweder Ketzereien oder er könne sie rasch abtun, doch beides war nicht der Fall. Vielmehr trug Prinz Kellhus die Worte der alten Propheten und des Inri Sejenus so vor, als seien es seine eigenen. Nichts von dem, was er sagte, widersprach auch nur einer der zahllosen Predigten, die Martemus in seinem Leben gehört hatte – und das, obwohl diese einander oft genug widersprachen. Der Prinz aber schien tieferen Wahrheiten auf der Spur: den unausgesprochenen Folgerungen aus dem, was jeder orthodoxe Inrithi bereits glaubte.
Wer ihm zuhörte, schien etwas zu erfahren, das er im Grunde seines Herzens bereits wusste.
Einige nannten ihn den gottgesandten Prinzen. Oder den, der die Menschen von innen erleuchtet.
Prinz Kellhus blieb auf den unteren Stufen des Ziggurat stehen und ließ den Blick über die Menge schweifen. Sein weißes Seidengewand glänzte im Sonnenlicht. Seine Erscheinung hatte etwas Herrliches, als sei er nicht vom Xijoser, sondern vom Himmel herabgestiegen. Mit einem Anflug von Angst fiel Martemus auf, dass er Kellhus nie den Ziggurat hatte besteigen oder aus der Ruine des Gotteshauses da oben hatte heraustreten sehen – als habe er sich plötzlich materialisiert.
Der General schalt sich einen Dummkopf.
»Der Prophet Angeshraël«, rief Prinz Kellhus, »kam vom Fasten auf dem Berg Eshki.« Die Versammlung wurde augenblicklich so still, dass Martemus den lauen Wind hören konnte. »Der Stoßzahn erzählt uns, Husyelt habe ihm einen Hasen zukommen lassen, damit er endlich essen konnte. Angeshraël häutete das Geschenk und briet es. Als er das Tier verzehrt hatte und zufrieden war, gesellte sich Husyelt, der heilige Pirschjäger, zu ihm ans Feuer, denn damals hatten die Götter die Welt noch nicht den Menschen überantwortet. Als Angeshraël den Gott erkannte, fiel er vor dem Feuer auf die Knie, ohne zu bedenken, wohin er sein Gesicht werfen sollte.« Der Prinz lächelte plötzlich.
»Wie ein junger Mann in der Hochzeitsnacht irrte auch er in seinem Eifer…«
Martemus lachte mit tausend anderen, und die Sonne schien heller zu strahlen.
»Und der Gott fragte: ›Warum fällt unser Prophet bloß auf die Knie? Sind Propheten nicht Menschen wie alle anderen? Sollten nicht auch sie sich mit dem Gesicht in den Staub werfen?‹ Darauf entgegnete Angeshraël: ›Ich knie direkt vor dem Feuer.‹ Und der unvergleichliche Husyelt sagte: ›Das Feuer brennt auf der Erde, und was es verzehrt, wird zu Erde. Ich bin dein Gott. Also wirf dich zu Boden!‹«
Der Prinz hielt inne.
»So neigte Angeshraël, wie uns der Stoßzahn berichtet, sein Haupt in die Flammen.«
Trotz der drückenden Luft bekam Martemus eine Gänsehaut. Wie oft hatte er, vor allem als Kind, mit dem irrlichternden Gedanken ins Feuer gestarrt, sein Gesicht in die Flammen zu tauchen – und sei es nur, um zu spüren, was ein Prophet einst spürte!
Angeshraël. Der Verbrannte Prophet, der den Kopf ins Feuer senkte!
»Wie Angeshraël«, fuhr der Prinz fort, »knien auch wir vor
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