Der Prinz von Atrithau
Vielleicht hat er Recht, Esmi! Hast du das je in Betracht gezogen? Vielleicht ist er kein Prophet!«
Esmenet starrte ihn ängstlich und verblüfft an, aber auch seltsam erregt. Wie hatte sie es so weit gebracht? Wie konnte eine Hure aus einem Elendsviertel von Sumna hier stehen – am Puls der Welt?
»Die Frage ist doch, was du denkst, Akka.«
Er schaute vor sich auf den Boden.
»Was ich denke?«, wiederholte er nachdenklich und hob den Blick.
Esmenet sagte nichts, spürte aber, wie die Härte aus ihren Augen wich.
Achamian zuckte seufzend die Achseln. »Dass das Gebiet der Drei Meere nicht unvorbereiteter auf die Zweite Apokalypse sein könnte… Der Heronspeer ist verloren. Die Sranc streifen durch die halbe Welt und sind hundertmal, tausendmal mehr als zu Zeiten Seswathas. Und die Menschheit besitzt nur einen Bruchteil der Chorae.« Er sah sie an, und seine Augen schienen nie stärker geleuchtet zu haben. »Auch wenn die Götter mich, nein, uns verdammt haben, kann ich nicht glauben, dass sie auch die Welt aufgeben…«
»Kellhus«, flüsterte sie.
Achamian nickte. »Sie haben uns mehr als den Vorboten gesandt. Das denke oder hoffe ich irgendwie.«
»Aber Hexenkunst, Akka…«
»… ist Gotteslästerei, ich weiß. Aber frag dich mal, Esmi, warum Hexenmeister Gotteslästerer sind. Und warum ein Prophet ein Prophet ist.«
Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Weil der eine das Lied Gottes singt und der andere die Worte Gottes spricht.«
»Genau«, sagte Achamian. »Ist es also Gotteslästerung, wenn ein Prophet Hexenkunst anwendet?«
Esmenet stand mit großen Augen sprachlos da.
»Akka…«
Er wandte sich wieder seinem Maultier zu und bückte sich, um seinen Rucksack aus dem Staub zu nehmen.
Plötzliche Panik befiel sie. »Bitte verlass mich nicht.«
»Ich hab dir doch gesagt, Esmi«, meinte er, ohne sie anzusehen, »dass ich nachdenken muss.«
Aber wir denken doch so gut zusammen nach!
Er war klüger, wenn sie ihn beriet. Das wusste er. Und jetzt stellte er sich einer Entscheidung wie keiner zuvor! Warum verließ er sie also? Gab es da noch etwas, das er vor ihr verbarg?
Flüchtig stand ihr vor Augen, wie er sich unter Serwë gewunden hatte. Er hat eine jüngere Hure gefunden, flüsterte es in ihr.
»Warum tust du das?«, fragte sie deutlich schärfer als beabsichtigt.
Nach einer verzweifelten Pause fragte Achamian: »Was?«
»Du bist wie ein Labyrinth, Akka. Du machst die Tore auf, bittest mich rein, weigerst dich aber, mir den Weg zu zeigen. Warum versteckst du dich immer?«
In seinen Augen blitzte eine unerklärliche Wut.
»Ich?«, fragte er lachend und wandte sich wieder seiner Aufgabe zu. »Ich soll mich verstecken?«
»Allerdings. Du bist so schwach, Akka, und musst es gar nicht sein. Denk daran, was Kellhus uns gelehrt hat!«
Er blickte sie an, und in seinen Augen standen Schmerz und Wut zugleich. »Und was ist mit dir? Sprechen wir doch mal über deine Tochter. Erinnerst du dich an sie? Wie lange ist es jetzt her, seit du…«
»Das ist etwas anderes! Sie kam vor dir!«
Warum sagte er so was? Warum versuchte er, sie zu verletzen?
Mein Mädchen! Mein kleines Mädchen ist tot!, dachte sie.
»Haarspalterei«, stieß Achamian hervor. »Die Vergangenheit ist nicht tot, Esmi.« Er lachte bitter. »Sie ist nicht einmal vergangen.«
»Wo ist dann meine Tochter, Akka?«
Einen Moment lang stand er perplex da. Sie verblüffte ihn oft so.
Du abgehalfterter Narr!, dachte sie.
Ihre Finger begannen zu zittern, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Wie konnte sie solche Dinge denken?
Weil seine Worte sie dazu gebracht hatten…
Was bildet der sich eigentlich ein!
Er sah sie offenen Mundes an, als würde er in ihrer Seele lesen. »Tut mir leid, Esmi«, meinte er vage. »Ich hätte das nicht sagen sollen.«
Er verstummte, wandte sich wieder seinem Maultier zu und zog wütend die Gurte fest. »Du weißt nicht, was die Gnosis für uns bedeutet«, fügte er hinzu. »Wenn ich ihn darin einweihen würde, wäre mehr als nur mein Leben verwirkt.«
»Dann erklär es mir, damit ich dich verstehe!«
Schließlich handelt es sich um Kellhus – und den haben wir zusammen entdeckt, dachte sie.
»Esmi, ich darf mit dir nicht darüber reden. Wirklich nicht.«
»Aber warum denn nicht?«
»Weil ich weiß, was du sagen wirst!«
»Nein, Akka«, entgegnete sie und spürte die alte Hurenkälte. »Das weißt du nicht. Du hast keine Ahnung.«
Er nahm das grobe Hanfseil vom einfachen Zaumzeug
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