Der Prinz von Atrithau
die Schriftrolle, was ihm in der Schreibstube eine Tracht Prügel eingetragen hätte. »Eigentlich sagt Sejenus hier: ›Gebt, ohne Belohnung zu erwarten, und ihr könnt große Belohnung erwarten!‹«
Achamian runzelte die Stirn.
»Verstehst du nicht?«, fuhr Sancla fort. »Er sagt, Frömmigkeit bestehe aus guten Taten ohne eigennützige Erwartungen, und wer etwas in Erwartung einer Gegenleistung gebe, der gebe nichts, absolut nichts.«
Achamian hielt die Luft an. »Also geben die Inrithi, die darauf spekulieren, im Jenseits erhöht zu werden…«
»… nichts«, hatte Sancla gesagt und ungläubig gelacht. »Sie geben nichts! Wir dagegen widmen unser Leben der Fortführung von Seswathas Kampf… Wir geben alles und können am Ende nur Verdammnis erwarten. Wir sind die Einzigen, Akka!«
Wir sind die Einzigen.
So verführerisch, bewegend und bedeutend diese Worte geklungen haben mochten: Achamian war bereits viel zu sehr Skeptiker, um ihnen zu trauen. Sie schmeichelten ihm viel zu sehr, als dass sie wahr sein konnten. Stattdessen hatte er gedacht, es müsse einfach genügen, ein guter Mensch zu sein. Und wenn es nicht genügte, dann war es um die nicht gut bestellt, die Gut und Böse beurteilten.
Was wahrscheinlich der Fall war.
Aber natürlich hatte Kellhus alles verändert. Achamian dachte jetzt ziemlich viel über seine Verdammnis nach.
Früher schien dieses Thema eher ein Vorwand für seinen Hang zur Selbstquälerei gewesen zu sein. Der Stoßzahn und der Traktat ließen in dieser Frage an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, obwohl Achamian viele ketzerische Werke gelesen hatte, die – völlig zu Recht – nahelegten, die vielen offenkundigen Widersprüche der Heiligen Schrift seien Beweis genug, dass die Propheten älterer und jüngerer Zeit auch bloß Menschen waren. »Der Himmel«, hatte Protathis geschrieben, »kann nicht durch nur einen Spalt scheinen.«
Es gab also Grund, die eigene Verdammnis zu bezweifeln. Vielleicht waren die Verdammten ja, wie Sancla vorgeschlagen hatte, in Wahrheit die Auserwählten. Achamian allerdings neigte eher zu der Annahme, die Unsicheren seien die Auserwählten. Er hatte oft gedacht, sich Gewissheit anzumaßen und sie vorzutäuschen, sei die rauschhafteste und destruktivste Versuchung. Gutes ohne Gewissheit zu tun, hieß, Gutes ohne Erwartung zu tun. Vielleicht war ja der Zweifel der Schlüssel zu allem.
Auf diese Frage konnte es natürlich keine Antwort geben. Wenn echter Zweifel die Voraussetzung schlechthin war, konnten nur die erlöst werden, die die Antwort nicht wussten. Über die Verdammnis nachzudenken, schien selbst schon immer eine Art Verdammnis.
Also dachte er nicht darüber nach.
Aber jetzt mochte es eine Antwort geben. Jeden Tag war er mit dieser Möglichkeit unterwegs gewesen und hatte mit ihr gesprochen.
Mit dieser Möglichkeit namens Prinz Anasûrimbor Kellhus.
Nicht, dass Achamian geglaubt hätte, Kellhus könnte ihm die Frage einfach beantworten, wenn er nur den Mut aufbrächte, sie endlich zu stellen. Ebenso wenig war er der Meinung, Kellhus verkörpere oder veranschauliche diese Antwort. Dadurch würde er zu unbedeutend werden. Kellhus war sicher nicht – wie die mystischen Nichtmenschen es sich womöglich gedacht hätten – der lebende Hinweis darauf, welches Schicksal Drusas Achamian ereilen würde. Nein. Achamian war klar, dass die Entscheidung über Höllensturz und Himmelfahrt davon abhing, was er zu opfern bereit war. Er selbst würde diese Frage beantworten.
Durch sein Handeln.
Und so sehr ihn dies Wissen erschreckte, so erfüllte es ihn doch mit dauernder und ungläubiger Freude. Eine Zeit lang hatte ihn die alte Sorge gequält, das Schicksal der Welt hinge von seinem Handeln ab. Er war gefühllos geworden gegenüber den ungeheuren Folgen, die sich daraus ergaben. Aber die Freude war etwas Neues und Unerwartetes. Mit Anasûrimbor Kellhus war Rettung eine echte Möglichkeit geworden. Rettung.
Zwar verlierst du deine Seele, doch du wirst die Welt gewinnen – mit diesen Worten begann der Katechismus der Mandati.
Aber das musste gar nicht sein! Das war Achamian nun klar. Endlich begriff er, wie trostlos, wie bar aller Hoffnung sein Leben gewesen war. Esmenet hatte ihm gezeigt, wie man liebte. Und Kellhus, Anasûrimbor Kellhus hatte ihm beigebracht, wie man hoffte.
Und er würde Liebe und Hoffnung am Schopfe packen und nicht mehr loslassen.
Er musste nur entscheiden, was zu tun war…
»Akka«, hatte Kellhus am Abend zuvor
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