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Der Prinz von Atrithau

Der Prinz von Atrithau

Titel: Der Prinz von Atrithau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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gesagt, »ich muss dich was fragen.«
    Nur sie beide hatten noch am Feuer gesessen und Wasser für einen mitternächtlichen Tee erhitzt.
    »Frag, was immer du willst, Kellhus«, hatte Achamian geantwortet. »Was beunruhigt dich?«
    »Das, was ich fragen muss…«
    Nie zuvor hatte Achamian eine so schmerzliche Miene gesehen. Als hätte das Entsetzen einen Punkt erreicht, bei dem es einem rauschhaften Entzücken glich. Er spürte den verrückten Drang, seine Augen zu schützen.
    »Was du fragen musst?«
    Kellhus hatte genickt.
    »Jeden Tag bin ich weniger ich selbst, Akka.«
    Welche Worte! Sich bloß daran zu erinnern, raubte Achamian schon den Atem. Auf einem besonnten Fleck hielt er an und drückte die Hände an die Brust. Ein Schwarm Vögel flatterte auf. Ihr Schatten flackerte geräuschlos über ihn hinweg. Er blinzelte in die Sonne.
    Ob ich ihn die Gnosis lehren soll?
    Diese Idee erschreckte ihn bis ins Mark. Der bloße Gedanke, die Gnosis jemandem außerhalb seines Ordens zu verraten, ließ ihn erbleichen. Er war sich nicht mal sicher, ob er die Gnosis überhaupt lehren konnte, denn dieses Wissen teilte er mit Seswatha, der gebieterisch über jedem seiner Träume stand.
    Erlaubst du es mir, Seswatha? Siehst du, was ich sehe?
    Nie in der Geschichte des Ordens hatte ein Hexenmeister von Rang die Gnosis verraten. Nur die Gnosis hatte den Mandati das Überleben ermöglicht. Nur die Gnosis hatte sie den Krieg Seswathas durch die Jahrtausende tragen lassen. Sie zu verraten, würde die Mandati zu einem unbedeutenden Orden machen. Achamian wusste, dass seine Brüder alles dafür tun würden, dies zu verhindern. Sie würden ihn und Kellhus ohne Unterlass jagen, um sie zu töten, und sie würden sich auf keine Diskussion einlassen. Und der Name Drusas Achamian würde wie ein Fluch durch die dunklen Flure von Atyersus geistern.
    Aber war das nicht nur Habgier oder Eifersucht? Die Zweite Apokalypse stand unmittelbar bevor. War nicht die Zeit reif, das gesamte Gebiet der Drei Meere zu bewaffnen? Hatte Seswatha sie nicht geheißen, ihr Waffenarsenal vor dem Schattenfall zu verteilen?
    Ja, das hatte er.
    Und würde Achamian so nicht zum gläubigsten Ordensmann der Mandati werden?
    Wie betäubt zog er weiter.
    Im Innersten wusste er, dass Kellhus gesandt worden war. Die Gefahr war zu groß und die Verheißung zu atemberaubend. Er hatte Kellhus binnen Monaten das Wissen einer halben Ewigkeit aufnehmen sehen. Er hatte atemlos zugehört, wie Kellhus geistige Wahrheiten aussprach, die mehr Scharfsinn besaßen als die des Ajencis, und emotionale Einsichten, die mehr Tiefe hatten als die des Sejenus. Er hatte mit offenem Mund im Staub gesessen, als der Dûnyain die Geometrie des Muretetis in eine neue unbegreifliche Dimension geführt hatte, indem er die alte Logik korrigierte und neue Logiken entwarf. Und das alles wie ein Kind, das mit einem Stock Spiralen in den Sand malt.
    Was wäre die Gnosis für einen Mann wie ihn? Ein Spielzeug? Was würde er entdecken? Welche Macht würde er haben?
    Immer wieder sah Achamian den Dûnyain für Sekundenbruchteile wie einen Gott über die Schlachtfelder des Krieges schreiten, ein Heer der Sranc zu Boden strecken, Drachen vom Himmel holen und den auferstandenen Nicht-Gott bekämpfen, den furchtbaren Mog-Pharau…
    Er ist unser Retter! Ich weiß es!
    Und wenn Esmenet doch Recht hatte? Wenn Achamian bloß der Versucher war? Wie der alte, böse Shikol im Traktat, der Inri Sejenus sein knöchernes Zepter, seine Armee, seinen Harem und alles außer seiner Krone bot, damit er nicht mehr predigte?
    Achamian blieb stehen, doch sein Maultier stieß ihn zwei Schritte weiter, und er streichelte ihm lächelnd die Schnauze. Ein Windstoß kräuselte die funkelnde Oberfläche des Sempis und fuhr durch die Bäume. Achamian begann zu zittern.
    Prophet und zugleich Hexenmeister – der Stoßzahn nannte solche Männer Schamanen. Das Wort lag unbeweglich wie ein Ziggurat in seinen Gedanken.
    Schamanen.
    Nein… Das ist verrückt!
    Zweitausend Jahre lang hatten die Mandati die Gnosis gehütet. Wer war er denn, eine solche Tradition zu verraten?
    In der Nähe waren einige Kinder unter einer Platane versammelt und kreischten und drängelten sich wie Spatzen um Brotkrümel. Achamian sah zwei kleine Jungen von vier, fünf Jahren, die einander fest bei der Hand genommen hatten und mit den Armen herumfuchtelten. Er war von der Unschuld ihres Verhaltens tief berührt und fragte sich, in welchem Alter sie merken würden,

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