Der Prinz von Atrithau
musste. Aber natürlich war Kellhus zugegen, und der Prinz stand einige Zeit neben ihm. Sie diskutierten hitzig, und Proyas lachte ab und an mit einem merkwürdig amüsiert anmutenden Unbehagen auf.
Cnaiür hatte beobachtet, wie der Einfluss des Dûnyain immer mehr gewachsen war. Er hatte mit angesehen, wie er nach und nach alle am Feuer des Xinemus für sich eingenommen und ihre Herzen so bearbeitet hatte, wie Sattelmacher es mit Leder tun. Er hatte beobachtet, wie er immer mehr Männer des Stoßzahns mit seinen Täuschungen angelockt und Tausende – Tausende! – mit einfachen Worten und unendlich tiefen Blicken unterjocht hatte. Und wie er sich um Serwë gekümmert hatte…
Er hatte all das mit angesehen, bis er das Beobachten nicht mehr ertragen konnte.
Cnaiür hatte immer von Kellhus’ Fähigkeiten gewusst, und ihm war stets klar gewesen, dass der Heilige Krieg sich ihm ausliefern würde.
Aber etwas zu wissen und etwas mit anzusehen, ist zweierlei. Er machte sich nichts aus den Inrithi, doch obwohl er sie verachtete, fürchtete er unwillkürlich für sie, als er sah, dass Kellhus’ Lügen sich wie ein Krebsgeschwür ausbreiteten. Wie sie sich ihm gegenüber in Kriecherei, Schmeichlerei und Unterwürfigkeit geradezu überschlugen! Wie jugendliche Dummköpfe und hartgesottene Krieger sich gleichermaßen erniedrigten! Wie sie ihm schmachtende Blicke zuwarfen und flehentliche Mienen annahmen! Dieser Kellhus! Und diese taumelnden Trunkenbolde! Diese verweichlichten und undankbaren Kerle! Wie leicht sie sich aufgaben!
Und niemand leichter als Serwë. Zu beobachten, wie sie ihm wieder und wieder erlag! Zu sehen, wie ihre Hand auf den Schenkeln des Dûnyain lag!
Diese Schlampe! Wie oft musste er sie noch schlagen, sich über sie hermachen oder ihre Schönheit sprachlos anstarren?
Cnaiür saß mit gekreuzten Beinen am Bug, musterte das ferne Ufer und spähte in die Schatten unter den Bäumen. Er konnte haufenweise Reiter ausmachen, womöglich Tausende, die ihre langsame Fahrt flussabwärts begleiteten.
Die Luft war unangenehm feucht. Angespannte Stimmen klangen übers Wasser. Es waren Inrithi, die sich von Boot zu Boot etwas zuriefen, meist Witze.
Doch die Stimmung kippte, als ein Dummkopf vor Cnaiürs Augen in den Fluss fiel. Der Mann tauchte mit dem Kopf zuerst ins Wasser und sank wegen seiner Rüstung immer tiefer, bis nur noch die Spiegelbilder seiner entsetzten Kameraden auf der Wasseroberfläche zu sehen waren. Jubel und Buhrufe klangen vom Südufer herüber. Proyas fluchte und beschimpfte seine Soldaten lauthals.
Danach verließ er Kellhus und drängte sich zum Bug, also zu Cnaiür. Seine Augen leuchteten auf jene besondere Art, wie die Augen aller leuchteten, die mit dem Dûnyain gesprochen hatten: als sei er gerade aus einem Alptraum erwacht und habe seine Familie unversehrt gefunden.
Aber obendrein gab er sich betont kameradschaftlich, und das war ein Zeichen von Angst.
»Du meidest Kellhus wie die Pest, weißt du das?«
Cnaiür schnaubte nur.
Proyas beobachtete ihn, und sein Lächeln erstarb. »Diese Dinge sind schwierig«, meinte er. Sein Blick glitt von Cnaiür zu den Heiden, die sie begleiteten und von denen sich immer mehr am Südufer einfanden.
»Welche Dinge sind schwierig?«, fragte Cnaiür.
Proyas verzog das Gesicht und kratzte sich am Hinterkopf. »Kellhus hat es mir erzählt…«
»Was hat er dir erzählt?«
»Von der Sache mit Serwë.«
Cnaiür nickte und spuckte ins Wasser. Natürlich hatte der Dûnyain es ihm erzählt. Besser hätte er ihre Entfremdung nicht erklären können.
Serwë – seine Beute.
Ja, diese Erklärung war perfekt, denn sie war einfach und plausibel und ließ keinerlei Fragen aufkommen.
Es war die typische Erklärung eines Dûnyain.
Nach einem kurzen, betretenen Schweigen fragte Proyas: »Sag mal, Cnaiür, woran glauben die Scylvendi?«
»Was ich glaube, willst du wissen?«
»Ja, natürlich.«
»Ich glaube, dass deine Vorfahren meinen Gott getötet haben und dass ihre Nachkommen die Schuld an diesem Verbrechen tragen.«
Seine Stimme zitterte nicht, und seine Miene blieb unverändert, doch wie stets schwang eine ungeheure Wut in seinen Worten mit.
»Dann betest du also die Rache an?«
»Ich bete die Rache an.«
»Und darum nennen sich die Scylvendi das Volk des Kriegs?«
»Ja. Krieg zu führen bedeutet, Rache zu üben.«
Die richtige Antwort. Also wozu der Schwall an Fragen?
»Um sich zurückzuholen, was einem genommen wurde«, sagte Proyas mit
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