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Der Prinz von Atrithau

Der Prinz von Atrithau

Titel: Der Prinz von Atrithau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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hatte.
    Dann las sie: »Lasst keine…«
    Diese Worte erkannte sie gleich, weil bisher jeder Satz damit begonnen hatte. Als sie aber das nächste Wort – Hure nämlich – herausbekam, hielt sie inne, sah Kellhus an und zitierte dann wütend aus dem Gedächtnis: »Lasst keine Hure leben, denn ihr Schoß ist ein Sündenpfuhl.« Ihre Ohren glühten, und sie musste sich beherrschen, um das Buch nicht in die Flammen zu werfen.
    Kellhus blickte ohne jede Verwunderung zurück.
    Er hat die ganze Zeit darauf gewartet, dass ich diese Stelle erreiche.
    »Gib mir das Buch«, sagte er mit einer Stimme, die nichts über seine Gefühle verriet.
    Sie tat, wie ihr geheißen.
    Mit fließender, beinahe unbewusster Bewegung zog er sein Messer, das er um die Taille gegürtet trug, fasste die Klinge knapp unter der Spitze und kratzte den beleidigenden Satz vom Pergament. Zunächst verstand Esmenet nicht, was er tat, sondern sah nur zu wie eine versteinerte Zeugin.
    Nachdem er die Stelle getilgt hatte, lehnte er sich zurück, um seine Arbeit zu begutachten.
    »So ist es besser«, sagte er, als hätte er Schimmel vom Brot gekratzt. Dann hielt er ihr das Buch wieder hin.
    Esmenet konnte sich nicht aufraffen, es zu berühren. »Aber so was kannst du doch nicht machen!«
    »Nein?«
    Er drückte ihr das Buch in die Hand, und sie schleuderte es förmlich in den Staub.
    »Das ist die Heilige Schrift, der Heilige Stoßzahn, Kellhus!«
    »Ich weiß. Die Begründung deiner Verdammnis.«
    Esmenet sah ihn verblüfft an. »Aber…«
    Kellhus blickte finster und schüttelte den Kopf, als würde ihre Begriffsstutzigkeit ihn erstaunen.
    »Für wen, Esmi, hältst du mich eigentlich?«
    Serwë piepste vor Lachen und klatschte sogar in die Hände.
    »Für wen ich dich…?«, begann Esmenet, brachte aber nicht mehr heraus. Außer im Spaß und in seltenen Momenten der Wut hatte sie Kellhus nie so… anmaßend reden hören.
    »Ja«, wiederholte er, »für wen?« Seine Stimme erschien ihr wie ein samtenes Donnern, sein Blick so endlos wie ein Kreis.
    Dann sah Esmenet das goldene Leuchten um seine Hände. Ohne nachzudenken, fiel sie vor ihm auf die Knie und presste das Gesicht in den Staub.
    Da hickste Serwë, und plötzlich stand – so absurd es war – wieder nur Kellhus vor ihr, lachte, zog sie aus dem Staub und bat sie, ihr Abendbrot zu essen.
    »Ist es so besser?«, fragte er, als sie sich wie betäubt neben ihn setzte. Ihre Haut brannte und juckte. Er wies mit dem Kopf auf das offene Buch und schob sich dabei Reis in den Mund.
    Verblüfft und aufgeregt errötete sie, schlug die Augen nieder und nickte ihrer Schüssel zu.
    Ich wusste es! Ich hab es immer gewusst!
    Der Unterschied war, dass auch Kellhus es nun wusste. Seine Gegenwart brannte förmlich in ihren Augenwinkeln. Sie fragte sich atemlos, ob sie ihm jemals wieder in die Augen blicken könnte.
    Ihr Leben lang hatte sie Dinge und Menschen von sich getrennt gesehen. Sie war Esmenet, und das hier war ihre Schüssel, das dort das Silber des Kaisers, der da ein Priester, da drüben der Tempelbezirk und so weiter. Sie stand hier, und die Dinge befanden sich dort. Doch das war vorbei. Alles schien die Wärme seiner Haut zu reflektieren: der Boden unter ihren Füßen wie die Matte unter ihrem Hintern. Und einen verrückten Moment lang war sie überzeugt, sie würde die weichen Locken eines geflochtenen Barts spüren, wenn sie sich über die Wange striche, und würde sie sich nach links wenden, sähe sie Esmenet reglos über ihre Reisschale gebeugt.
    Irgendwie war alles reine Gegenwart geworden, und diese Gegenwart war er.
    Kellhus.
    Sie atmete tief ein. Ihr Herz hämmerte gegen die Brust.
    Er hat die Stelle weggekratzt!
    Mit einem einzigen Ausatmen schien lebenslange Verdammnis von ihr abgefallen, und sie fühlte sich von jeder Schuld befreit, wirklich befreit. Sie erlebte eine Klarheit, als wären ihre Gedanken wie Wasser gefiltert worden. Ich sollte weinen, dachte sie, doch das Sonnenlicht war zu grell, die Luft zu rein dafür.
    Über allem lag jetzt Gewissheit.
    Er hat die Stelle weggekratzt!
    Dann dachte sie an Achamian.
    Es stank nach Wein, Erbrochenem und Achselschweiß. Fackeln loderten durch die Finsternis, tauchten Lehmziegelmauern in Orange und Schwarz und beleuchteten bruchstückhaft die betrunkenen Krieger im Dunkeln: hier ein bärtiges Kinn, dort eine gerunzelte Stirn, mal ein glitzerndes Auge, mal eine blutige Faust auf einem Schwertknauf. Cnaiür von Skiötha war unter ihnen und ging durch

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