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Der Prinz von Atrithau

Der Prinz von Atrithau

Titel: Der Prinz von Atrithau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Angst hättest.«
    Esmenet hatte sich für aufrichtig gehalten, aber als sie sich an Serwës schlanken Rücken schmiegte, frohlockte sie bei dem Gedanken an die Angst des Mädchens. Sie wickelte sich Serwës blondes Haar um die Finger und dachte daran, wie das Mädchen es über Achamians Brust hatte streichen lassen. Ob es sich wohl leicht ausreißen ließe?
    Warum hast du mit Akka geschlafen? Warum?
    Am nächsten Morgen erwachte Esmenet mit Gewissensbissen. Hass – hieß es in Sumna – ist ein gieriger Gast, der nur in stolzgeschwellten Herzen wohnt. Und ihr Herz war sehr dünn geworden. Sie starrte das Mädchen im Halbdunkel an. Serwë hatte sich im Schlaf gedreht und ihr Engelsgesicht Esmenet zugekehrt. Die Rechte lag auf ihrem Bauch, und sie atmete ruhig wie ein Baby.
    Wie konnte ein schlummerndes Gesicht so schön sein? Eine Zeit lang dachte Esmenet darüber nach, was sie darin zu sehen glaubte. Sie ahnte eine gewisse Heimtücke darin – eine Empfindung, die bei Kindern, die andere aus einem Versteck heraus beobachten, häufig ist. Bei diesem Gedanken musste Esmenet grinsen. Dann konzentrierte sie sich wieder auf das Gesicht des Mädchens und spürte die Aura des Schlafs, die Vorahnung des Todes und das Wunder, das widerspenstige Mienenspiel des menschlichen Gesichts an einem Punkt still gestellt zu sehen. Und sie erkannte, dass allen Gesichtern dieser Punkt gemeinsam war. Esmenet begriff, dass das Gesicht dieser Schlafenden auch ihr Gesicht war – genau wie das von Achamian und sogar das von Kellhus. Doch stärker als jeden anderen Eindruck empfand sie eine wunderbare Verletzlichkeit. Die Kehle des Schlafenden – so lautete ein Sprichwort der Leute aus Nilnamesh – ist rasch durchschnitten.
    War das nicht Liebe? Im Schlaf betrachtet zu werden?
    Sie weinte, als Serwë erwachte, blinzelte, sie ins Auge fasste und die Stirn runzelte.
    »Warum weinst du?«
    Esmenet lächelte. »Weil du so schön bist, so vollkommen.«
    Serwës Augen blitzten vor Freude. Sie rollte sich auf den Rücken und streckte die Arme in die Luft.
    »Ich weiß!«, rief sie und vollführte mit den Schultern einen kleinen Freudentanz. Dann sah sie Esmenet an und zuckte dramatisch die Brauen. »Jeder will mich!«, sagte sie lachend. »Selbst du!«
    »Kleine Hure!«, stieß Esmenet hervor und hob die Hände, als wollte sie ihr die Augen auskratzen.
    Kellhus saß schon am Feuer, als die beiden lachend und quiekend aus dem Zelt stolperten. Er schüttelte den Kopf, wie es Männer in so einer Situation womöglich tun sollten.
    Von diesem Tag an war Esmenet Serwë noch mehr zugetan. Welch merkwürdige und verwirrende Freundschaft war sie mit diesem Mädchen eingegangen – mit diesem schwangeren Kind, das sich einen Propheten als Liebhaber genommen hatte.
    Noch ehe Achamian zur Bibliothek aufgebrochen war, hatte sie sich gefragt, was Kellhus in Serwë sehen mochte. Sicher mehr als nur ihre Schönheit, die – wie Esmenet oft dachte – schlicht überirdisch war. Kellhus sah Herzen, nicht Haut, so glatt und marmorweiß sie auch sein mochte. Und Serwës Herz war ihr voller Fehler erschienen – freudig zwar und offen, aber auch eitel, bockig, reizbar und schamlos.
    Nun jedoch fragte sich Esmenet, ob nicht gerade diese Fehler das Geheimnis von Serwës Vollkommenheit ausmachten – die Vollkommenheit ihres Herzens also, die sie an der Schlafenden beobachtet hatte. Einen Moment lang hatte sie gesehen, was nur Kellhus sehen konnte: die Schönheit der Schwäche, den Glanz des Unvollkommenen.
    Sie begriff, die Wahrheit gesehen zu haben – und zwar auf eine Weise, die es geradezu gebieterisch verlangte, Zeugnis davon abzulegen.
    Sie konnte keine geeigneten Worte dafür finden, fühlte sich aber besser und zu neuem Leben erwacht. Am Morgen hatte Kellhus sie angesehen und ihr auf eine offene, bewundernde Art zugenickt, die sie an Xinemus erinnerte. Er sagte nichts, weil es dessen nicht bedurfte – so jedenfalls kam es ihr vor. Vielleicht, dachte sie, unterscheidet sich die Wahrheit gar nicht so sehr von der Hexenkunst. Vielleicht erkennen diejenigen, die sie sehen, einander einfach.
    Bevor sie dann mit Serwë aufbrach, um in den halbverlassenen Basaren von Ammegnotis zu schnorren, half Kellhus ihr beim Lesen. Trotz ihrer Proteste hatte er ihr für den Anfang die Chronik des Stoßzahns gegeben. Schon die in Leder gebundene Handschrift nur zu halten, erfüllte sie mit Angst. Sogar ihr Aussehen, ihr Geruch und selbst das Knarren des Buchrückens vermittelten

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