Der Prinz von Atrithau
Proyas,
mögen die Götter Gottes Euch beschützen und behüten.
Euer letztes Schreiben…
Mit einem Gefühl der Schuld und Beschämung hielt Proyas inne. Vor Monaten hatte er Maithanet auf Bitten von Achamian hin geschrieben und sich nach dem Tod eines früheren Schülers des Mandati erkundigt, nach dem Tod von Paro Inrau nämlich. Damals hatte er nicht im Traum daran gedacht, den Brief abzuschicken, sondern war überzeugt gewesen, das Schreiben des Briefs würde sein Abschicken unmöglich machen. Gab es einen besseren Weg, eine Pflicht zugleich zu erfüllen und loszuwerden? Lieber Maithanet, ein mit mir befreundeter Hexenmeister lässt fragen, ob Ihr einen seiner Kundschafter getötet habt. Es war heller Wahnsinn. Einen solchen Brief konnte er unmöglich abschicken!
Und doch hatte er genau das getan.
Wie hätte er sich diesem Inrau nicht verwandt fühlen sollen, dem anderen Schüler, den Achamian geliebt hatte? Wie hätte er sich an den Unterricht des Mandati nicht genau erinnern sollen – an das ironische Lächeln und die blinzelnden Augen seines Lehrers und an die gemütlichen Nachmittage, an denen sie im Garten Übungen gemacht hatten? Wie hätte er diesen guten und freundlichen Mann nicht bedauern sollen, der bis zu seiner Verdammnis stets auf der Suche nach einer halluzinierten Bedrohung und nach Frauengeschichten war?
Proyas hatte den Brief abgeschickt, weil er der Meinung war, dass dieses Anliegen seines alten Tutors zu guter Letzt ad acta gelegt werden sollte. Er hatte nie eine Antwort erwartet, jedenfalls nicht ernsthaft. Aber er war ein Prinz, ein Thronerbe anscheinend, und Maithanet war Vorsteher der Tausend Tempel. Briefe, die zwischen solchen Männern gewechselt wurden, erreichten immer irgendwie ihren Adressaten – egal, wie feindlich die Welt ringsum war.
Proyas las weiter und hielt den Atem an, um seine Scham zu betäuben – die Scham darüber, dem Mann, der das Gebiet der Drei Meere säubern würde, in einer so trivialen Angelegenheit geschrieben zu haben; die Scham darüber, zu Füßen dieses Mannes geweint zu haben; die Scham schließlich auch darüber, sich dafür zu schämen, dem Wunsch eines alten Lehrers entsprochen zu haben.
Prinz Nersei Proyas,
mögen die Götter Gottes Euch beschützen und behüten. Euer letztes Schreiben hat uns, wie wir leider saßen müssen, perplex gemacht, bis wir uns daran erinnert haben, dass Ihr selbst einst mehrere – wie sollen wir es nennen? – dubiose Verbindungen unterhalten habt. Wir sind darüber informiert, dass der junge Priester Paro Inrau durch Selbstmord zu Tode kam, Das Kollegium der Luthymae, das mit der Untersuchung dieser Angelegenheit beauftragt war, berichtet, dieser Inrau habe früher die Hexenkunst der Mandati studiert und sei in letzter Zeit in Begleitung seines alten Lehrers – eines Mannes namens Drusas Achamian – gesehen worden, (Die Luthymae glauben, dieser Achamian habe Inrau gedrängt, verschiedene Aufträge für seinen Orden zu erledigen, also als Kundschafter zu arbeiten, Sieglauben, dass der junge Priester sich deshalb in einer unhaltbaren Lage befunden hat. Wie es in Stämme 4,8 heißt: »Wer keinen Ort zum Atmen hat, der wird des Atmens müde.«
Der Gotteslästerer Achamian trägt offenbar die Verantwortung für den traurigen Tod des jungen Mannes. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Möge Gott seiner Seele gnädig sein. In Lobgesang 6,22 heißt es: »(Die Erde weint über Worte, die nichts vom Zorn Gottes wissen.«
So perplex wir auch nach Eurem Schreiben waren, fürchten wir doch, dass unsere Antwort Euch ähnlich stutzig machen wird. Indem wir die Scharlachspitzen zu Verbündeten des Heiligen Kriegs gemacht haben, haben wir die Kompromissbereitschaft frommer Menschen arg strapaziert, hoffen aber, dass den Gläubigen klar ist, dass wir durch die Umstände dazu gezwungen waren. Ohne die Scharlachspitzen hat der Heilige Krieg keine Chance, sich gegen die Cishaurim durchzusetzen, »beantwortet Gotteslästerei nicht mit Gotteslästerei«, sagt unser Prophet, und diesen Vers haben unsere Feinde oft zitiert. Doch als Antwort auf die Vorwürfe der Kultpriester sagt der Prophet auch: »Viele werden durch Niederträchtigkeiten geläutert, denn das Licht muss das Dunkel ablösen, wenn es Licht sein soll, und das Heilige muss das Böse ablösen, wenn es heilig sein soll.« Darum muss der Heilige Krieg die Scharlachspitzen ablösen, wenn er wirklich ein Heiliger Krieg sein soll. Wie es in Gelehrte 1,3 heißt: »Lasst
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