Der Prinz von Atrithau
übersteige mein Verständnis oder meine Kenntnis. Anderenfalls hätte er mir seine Gründe sicher erläutert…
Mochte es um die Rathgeber gehen?
»Die Träume«, hatte Achamian in Momemn gesagt. »Sie sind in letzter Zeit noch heftiger gewesen.«
»Ach ja, wieder mal zurück zu den Alp träumen…«
»Es geht etwas vor, Proyas. Das weiß ich. Das spüre ich!«
Nie hatte er so verzweifelt ausgesehen.
Konnte es wirklich um die Rathgeber gehen?
Nein, das war zu absurd. Selbst wenn sie wirklich existierten: Wie konnte der Tempelvorsteher sie dann aufspüren, während es den Mandati nicht gelang?
Nein. Es musste etwas mit den Scharlachspitzen zu tun haben. Schließlich war es Achamians Auftrag, sie zu beobachten.
Proyas zog an seinen Haaren und knurrte.
Warum konnte nicht wenigstens diese eine Sache rein sein? Warum musste alles Heilige von ordinären und ekelhaften Absichten befallen sein?
Er saß ganz still da, atmete eine Zeit lang zitternd ein und aus und stellte sich vor, sein Schwert zu ziehen und wild um sich schlagend und schreiend und kreischend durch seine Gemächer zu stürmen… Dann beruhigte er sich wieder.
Es gab einfach nichts Reines. Die Liebe hatte sich in Verrat verwandelt, Gebete in Anklagen.
Und war es Maithanet in seinem Brief nicht gerade darum gegangen, dass das Heilige das Böse ablöst?
Proyas hatte sich für den moralischen Anführer des Heiligen Kriegs gehalten. Aber nun war er eines Besseren belehrt. Jetzt wusste er, dass er bloß ein Spielstein auf dem Benjukafeld war. Die Spieler mochten ihm bekannt sein – die Tausend Tempel, das Haus Ikurei, die Scharlachspitzen, die Cishaurim und vielleicht sogar Kellhus –, doch die Spielregeln, die beim Benjuka das eigentlich Heimtückische waren, waren ihm völlig unbekannt.
Ich weiß nichts, gar nichts.
Der Heilige Krieg hatte gerade erst triumphiert, und doch hatte Proyas sich nie so verzweifelt gefühlt.
So schwach.
Ich hab’s dir gesagt, alter Lehrer. Ich hab’s dir gesagt.
Wie aus einer Betäubung erwacht, rief Proyas nach Algari, seinem alten Leibsklaven aus Ciron, und hieß ihn seine Schreibutensilien bringen. So müde er auch war, musste er dem Tempelvorsteher doch sofort antworten, denn am nächsten Tag würde der Heilige Krieg in die Wüste aufbrechen.
Als er die kleine Kiste aus Mahagoni und Elfenbein öffnete und mit den Fingern über Federkiele und Pergamentrollen strich, kam Nersei Proyas sich wieder wie ein kleiner Junge vor, der unter den scharfen, aber alles vergebenden Augen Achamians seine Schreibübungen begann. Er spürte beinahe, wie sich die freundliche Silhouette des Hexenmeisters wachsam über seine schlanke, jungenhafte Schulter beugte.
»Dass das Haus Nersei einen so blöden Jungen hervorbringen konnte!«
»Dass der Orden der Mandati einen so blinden Lehrer schicken konnte!«
Proyas lachte fast das weise Lachen seines Lehrers.
Und Tränen traten ihm in die Augen, als er den ersten Absatz seiner verblüfften Antwort an Maithanet beendete:… aber anscheinend, Eminenz, ist Drusas Achamian tot.
Esmenet lächelte, und Kellhus sah durch ihre olivfarbene Haut und das Spiel ihrer Muskeln hindurch bis zu dem abstrakten Punkt, der ihre Seele beschrieb.
Sie weiß, dass ich sie erkenne, Vater.
Im Lager herrschte reges Treiben. Überall waren offenherzige Gespräche zu hören. Der Heilige Krieg war drauf und dran, durch die Wüste von Khemema zu marschieren, und Kellhus hatte die vierzehn Ältesten seiner Zaudunyani zu sich ans Feuer eingeladen, die Sprecher des »Stamms der Wahrheit« also, um diesen Begriff aus dem Kuniürischen zu übersetzen. Sie kannten ihren Auftrag schon. Kellhus musste sie nur an das erinnern, was er ihnen versprochen hatte. Überzeugungen bestimmten das menschliche Handeln nicht allein. Es gab auch Sehnsucht, und die vierzehn Männer, die seine Boten waren, mussten in dieser Sehnsucht erstrahlen.
Sie waren die Vasallen des Kriegerpropheten.
Esmenet saß ihm auf der anderen Seite des Feuers gegenüber und lachte und plauderte mit ihren Nachbarn Arweal und Persommas. Ihr Gesicht war ganz rot vor einer Freude, die sie sich nicht vorzustellen gewagt hatte und sich noch kaum einzugestehen traute. Kellhus zwinkerte ihr zu und sah dann die anderen an, lächelte, lachte, rief mancherlei in die Runde…
… und musterte sie alle dabei genau und beherrschte sie.
Jeder Einzelne von ihnen war eine sprudelnde Quelle der Erkenntnis. Die gesenkten Augen, das schneller schlagende
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