Der Prinz von Atrithau
das Licht dem Dunkel folgen nach dem Vorbild des Himmels.«
Nun müssen wir Euch um einen weiteren Kompromiss ersuchen, Prinz Nersei Proyas. Ihr müsst alles in Eurer Macht Stehende tun, diesem Ordensmann der Mandati zu helfen. Vielleicht ist das nicht so schwierig wie wir fürchten, da dieser Mann in Aökqnyssus einmal Euer Lehrer war. Doch wir kennen das Ausmaß Eurer Frömmigkeit, und anders als bei dem großen Kompromiss, den wir Euch hinsichtlich der Scharlachspitzen aufgenötigt haben, gibt es hier keine Notwendigkeit, auf die wir uns berufen könnten, um ein Herz zu trösten, das durch die Nähe der Sünde beunruhigt ist. Um es mit Hintarates 28,4 zu sagen: »Ich frage euch: Gibt es einen schwierigeren Freund als einen Sünder?«
Helft Drusas Achamian, Proyas, obwohl er ein Gotteslästerer ist, denn das Heilige wird auch seine Lasterhaftigkeit ablösen. Alles wird am Ende klar werden und ruhmreich sein. Bedenkt Gelehrte 22,3 G: »Denn das Krieg führende Herz wird müde und wendet sich süßeren Arbeiten zu. Und der Friede der Morgendämmerung wird die Menschen durch die Mühen des Tages begleiten.«
Möge Gott Euch in all seinen Aspekten beschützen und behüten.
Maithanet
Proyas ließ den Brief in den Schoß sinken.
Helft Drusas Achamian…
Was mochte der Tempelvorsteher damit meinen? Was mochte auf dem Spiel stehen, dass er so eine Bitte äußerte?
Und was sollte er, Proyas, mit einer solchen Bitte anfangen – nun, da es zu spät und Achamian verschwunden war?
Ich habe ihn getötet.
Plötzlich erkannte Proyas, dass er seinen alten Lehrer als Wegweiser und Maßstab der eigenen Frömmigkeit benutzt hatte. Gab es einen größeren Beweis der Rechtschaffenheit als die Bereitschaft, einen geliebten Menschen zu opfern? War dies nicht die Lektion von Angeshraël auf dem Berg Kinsureah? Und konnte man einen geliebten Menschen besser opfern als durch Hass?
Oder dadurch, ihn seinen Feinden auszuliefern?
Er dachte an die Hure an Kellhus’ Feuer, an Achamians Geliebte Esmenet also. Wie elend sie gewirkt hatte, wie ängstlich. War er dafür verantwortlich?
Sie ist nur eine Hure!
Und Achamian war nur ein Hexenmeister.
Die Menschen waren nicht gleich. Gewiss begünstigten die Götter, wen sie wollten, aber das war nicht alles. Taten entschieden über den Wert eines jeden. Leben war Gottes Frage an die Menschen, und Taten waren ihre Antwort. Und wie alle Antworten waren sie richtig oder falsch, gesegnet oder verflucht. Achamian hatte sich durch seine Taten gerichtet und verflucht! Genau wie die Hure. Nicht Nersei Proyas, sondern der Stoßzahn und der Letzte Prophet hatten geurteilt!
Inri Sejenus.
Woher kamen dann aber die Scham, die Qual, der unnachgiebige, herzzerreißende Zweifel?
Jener Zweifel, der Achamians wichtigste Lektion gewesen war. Geometrie, Logik, Geschichte, die Mathematik der Leute aus Nilnamesh und sogar Philosophie waren, wie Achamian immer wieder behauptet hatte, Schund angesichts des Zweifels, der sie erst habe entstehen lassen und auch wieder beseitigen würde.
Der Zweifel, pflegte er zu sagen, habe den Menschen die Freiheit gebracht. Der Zweifel, nicht die Wahrheit!
Überzeugung ist das Fundament jeder Tat. Wer glaubt, ohne zu zweifeln, handelt, ohne nachzudenken. Und wer handelt, ohne nachzudenken, ist ein Sklave.
So hätte Achamian es gesagt.
Nachdem Proyas einmal den geliebten älteren Bruder Tirummas von seiner entsagungsvollen Wallfahrt ins Heilige Land hatte berichten hören, hatte er Achamian erzählt, wie gern er Tempelritter werden wolle.
»Warum?«, hatte der beleibte Ordensmann gerufen.
Sie waren durch die Gärten spaziert. Proyas erinnerte sich noch, von einem gefallenen Blatt zum nächsten gesprungen zu sein, um sie unter den Sandalen knistern zu hören. Bei der gewaltigen Eiseneiche, dem Mittelpunkt der Grünanlage, hatten sie angehalten.
»Damit ich an den Grenzen Nansurs Heiden töten kann!«
Achamian hatte die Hände bestürzt hochgerissen. »Dummer Junge! Weißt du, wie viele verschiedene Glaubensrichtungen es gibt? Wie viele miteinander im Streit liegende Überzeugungen? Und du würdest andere um der schwachen Hoffnung willen umbringen, deine Überzeugung sei die einzig wahre?«
»Ja! Ich bin gläubig!«
»Glaube«, hatte der Ordensmann gesagt, als erinnerte er sich an den Namen eines gehassten Feindes. »Überleg mal, Prosha: Womöglich kann man nicht zwischen Gewissheiten wählen, zwischen diesem Glauben und jenem, sondern nur zwischen Glaube
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