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Der Prinz von Atrithau

Der Prinz von Atrithau

Titel: Der Prinz von Atrithau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Esmenet atemlos.
    Die Luft schien vor Gedanken zu vibrieren.
    »Wenn ein Volk einem anderen tributpflichtig ist wie etwa die Cepaloraner den Nansur«, fuhr Kellhus fort, »wessen Sprache sprechen beide Völker dann?«
    »Die des Eroberers.«
    »Und wessen Sprache sprichst du?«
    Sie schluckte. »Die der Männer.«
    Bei jedem Blinzeln schien sie Freier für Freier über sich gebeugt zu sehen…
    »Du siehst dich«, sagte Kellhus, »wie die Männer dich sehen. Du hast Angst vor dem Alter, weil sie nach Mädchen hungern. Du ziehst dich schamlos an, weil sie auf deine Haut scharf sind. Du traust dich kaum zu reden, weil sie dich lieber schweigen sehen. Du gibst nach. Du wirfst dich in Pose. Du machst dich zurecht und putzt dich heraus. Du verbiegst deine Gedanken und entstellst dein Herz. Du manipulierst an dir herum und machst dich kleiner und kleiner und kleiner – nur, damit du die Sprache deines Eroberers sprichst!«
    Nie schien sie so reglos gewesen. Die Luft in ihrer Kehle und sogar ihr Blut schienen stillzustehen. Kellhus war eine Stimme geworden, die von irgendwo zwischen ihren Tränen und dem Schein des Feuers tönte.
    »Du sagst: ›Erlaube mir, mich zu erniedrigen. Lass mich dich ertragen! Bitte!‹«
    Irgendwie wusste Esmenet, wohin diese Worte führen mussten. Deshalb dachte sie über andere Dinge nach – zum Beispiel darüber, warum trockene Haut und trockene Stoffe immer so sauber zu sein schienen.
    Weil Dreck Wasser braucht – genau wie Männer, erkannte sie.
    »Doch du nimmst dir vor, den ausgetretenen Bahnen nicht zu folgen«, fuhr Kellhus fort. »Vielleicht entziehst du dich einigen Verkehrtheiten. Vielleicht weigerst du dich zu küssen und gibst vor, Bedenken zu haben und Unterschiede zu machen, obwohl die Welt dich auf wegloses Territorium gezwungen hat. Münzen! Münzen! Münzen für alles, und alles für Münzen! Münzen für den Vermieter und für bestechliche Beamte. Für den Kaufmann um die Ecke und die rauen Kerle mit verschorften Knöcheln. Und insgeheim fragst du dich, ob es, da du doch schon verdammt bist, noch etwas Undenkbares gibt, und ob du, da du ohnehin keine Würde hast, nicht alles tun kannst, wonach dir der Sinn steht.«
    Esmenets Gesicht war nass. Als sie die Hand von der Wange nahm, waren ihre Fingerkuppen schwarz.
    »Du sprichst die Sprache deiner Eroberer«, flüsterte Kellhus. »Du sagst: Mimara, Kind, komm mit.«
    Ein Zittern durchfuhr sie wie die Haut einer Trommel.
    »Und du bringst sie…«
    »Sie ist tot!«, schrie sie. »Sie ist tot!«
    »… zu den Sklavenhändlern im Hafen…«
    »Aufhören!«, stieß sie hervor. »Aufhören!«
    »… und verkaufst sie.«
    Sie erinnerte sich an seine Umarmung und daran, ihm zu seinem Pavillon gefolgt zu sein und neben ihm gelegen und geweint und geweint zu haben, während seine Stimme ihre Verzweiflung aus den Tiefen des Unbegriffenen oder Verdrängten befreite und sie ihr so erst wirklich bewusst machte und Serwë ihr die Tränen von den Wangen strich und ihr mit kühlen Fingern durchs Haar fuhr. Sie erinnerte sich, ihnen erzählt zu haben, was passiert war. Von dem furchtbaren Hungersommer, in dem sie ihr Mädchen immer mehr gehasst hatte – diese dreckige kleine Schlampe, die stets weinte, ständig Ansprüche stellte, das mühsam verdiente Essen im Handumdrehen aufaß und sie so immer wieder zum Anschaffen auf die Straße zwang. Vom hohläugigen Irrsinn, der allmählich von ihr Besitz ergriffen hatte – wer verstand schon, was sich im Kopf von Verhungernden abspielt? Von den Sklavenhändlern, deren Speisekammern im Zuge der Hungersnot immer voller geworden waren. Von Mimaras Kreischen, dem Kreischen ihres kleinen Mädchens! Von den vergifteten Münzen, die kaum eine Woche – kaum eine Woche! – vorgehalten hatten.
    Wieder erinnerte sie sich an dieses Kreischen!
    Und daran, geweint zu haben wie nie zuvor, weil sie über den Verkauf ihrer Tochter geredet und er, Kellhus, ihr zugehört hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich in seinem Vertrauen hatte treiben lassen, in seiner Poesie und seinem übermenschlichen Wissen darüber, was richtig und wahr war.
    In seiner Lossprechung.
    »Dir ist vergeben, Esmenet.«
    Wer bist du, dass du anderen vergeben kannst?
     
     
    Als sie erwachte, lag ihr Kopf auf seinem Arm. Sie war nicht verlegen, obwohl sie es wohl hätte sein sollen, und wusste sofort, wo sie war. Zwar zuckte ein Teil ihres Wesens zurück, doch ein anderer Teil frohlockte.
    Sie lag neben Kellhus.
    Ich hab nicht mit ihm

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