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Der Prinz von Atrithau

Der Prinz von Atrithau

Titel: Der Prinz von Atrithau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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allein begegnet. Manchmal hatten sie Worte gewechselt, manchmal nicht, immer aber war es zum Blutvergießen gekommen. Doch nun schienen diese Träume nur mehr jugendliche Fantasien. Kellhus hatte Recht: Nach dreißig Jahren in Shimeh war Moënghus sicher niemand mehr, den man in einer Seitenstraße abstechen konnte, sondern ein Potentat, der über ein Reich gebot. Und wie sollte es auch anders sein? Schließlich war er ein Dûnyain!
    Genau wie sein Sohn Kellhus.
    Wer konnte sagen, wie weit die Macht von Moënghus reichte? Sicher auch über die Cishaurim und die Kianene. Aber in welchem Umfang? Wirkte seine Macht womöglich auch auf das Heer des Heiligen Kriegs ein?
    Und zwar durch Kellhus?
    Gab es für einen Dûnyain einen besseren Weg, seine Feinde zu besiegen, als dadurch, ihnen den eigenen Sohn als Kuckucksei ins Nest zu legen?
    Schon verstummten die Heerführer der Inrithi bei den Beratungen mit Proyas, wenn Kellhus sich äußerte; schon beobachteten sie ihn verstohlen, wenn sie ihn abgelenkt meinten, und tuschelten über ihn, wenn sie glaubten, er hörte sie nicht. Und so wichtigtuerisch sie auch waren: Sie fügten sich ihm – und zwar nicht aufgrund seines Rangs oder seines Amts, sondern weil er etwas besaß, das sie brauchten. Irgendwie hatte Kellhus sie davon überzeugt, außergewöhnlich, ja einmalig zu sein, und diese Aura der Einmaligkeit verdankte sich längst nicht nur der Behauptung, vom Heiligen Krieg geträumt zu haben, oder der Frivolität, mit der er ihre Eitelkeit und Vorurteile ausnutzte wie ein Vater, der seine Kinder geschickt zu manipulieren weiß. Seine Aura verdankte sich auch dem, was er sagte, den Wahrheiten also, die er aussprach.
    »Aber Gott ist mit den Gerechten!«, hatte Ingiaban, der Pfalzgraf von Kethantei, eines Abends während der Beratungen gerufen, als sie (weil Cnaiür darauf bestanden hatte) die verschiedenen Strategien diskutierten, derer sich Skauras – der Sapatishah von Shigek – zu ihrer Vernichtung bedienen könnte. »Sejenus selbst…«
    »Und ihr?«, unterbrach ihn Kellhus. »Seid ihr gerecht?«
    Kaum hatte er diese Frage gestellt, schien die Atmosphäre im kaiserlichen Zelt von seltsamer, zielloser Erwartung wie zum Zerreißen gespannt.
    »O ja, wir sind die Gerechten«, antwortete der Pfalzgraf von Kethantei. »Was hätten wir sonst hier zu suchen?«
    »Gute Frage«, meinte Kellhus. »Was tun wir hier eigentlich?«
    Cnaiür sah, dass Gaidekki Xinemus einen kurzen, besorgten Blick zuwarf.
    Misstrauisch versuchte Ingiaban, Zeit zu gewinnen, indem er an seinem Anpoi nippte. »Wir ziehen mit Waffengewalt gegen die Heiden – was sonst?«
    »Weil wir die Gerechten sind?«
    »Und weil sie gottlos sind.«
    Kellhus lächelte so ernst wie mitfühlend. ›»Der Gerechte folgt den Geboten Gottes immer und unbedingt…‹ – steht es nicht so bei Sejenus geschrieben?«
    »Natürlich.«
    »Und wer befindet darüber, ob Menschen gegen diese Gebote verstoßen haben? Andere Menschen?«
    Der Pfalzgraf von Kethantei erbleichte. »Nein. Nur Gott und seine Propheten.«
    »Dann sind wir also nicht gerecht?«
    »Doch… Ich meine, nein…« Ingiaban sah Kellhus verblüfft an, und eine erschreckende Ratlosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich meine… Ich weiß nicht mehr, was ich meine!«
    Zugeständnisse. Immer Zugeständnisse verlangen. Sie geradezu anhäufen.
    »Na bitte«, sagte Kellhus, dessen Stimme nun tief und ungewöhnlich klangvoll war und von überallher zu kommen schien. »Kein Mensch darf sich zu den Gerechten zählen, Pfalzgraf – er kann nur hoffen, sich unter ihnen zu finden. Das ist es, was unserem Handeln Bedeutung gibt. Wenn wir die Waffen gegen die Heiden erheben, tun wir dies nicht als Priester vor dem Altar, sondern als Opfer. Es bedeutet nichts, Gott einen anderen darzubieten – also bieten wir ihm uns selbst dar. Täuscht euch nicht: Wir setzen unser Seelenheil aufs Spiel und springen ins Ungewisse. Diese Wallfahrt ist unsere Opfergabe. Erst hinterher werden wir wissen, ob wir nicht versagt haben.«
    Diesen Worten folgte ein Gemurmel verblüffter, ja verwunderter Zustimmung.
    »Gut gesagt, Kellhus«, hatte Proyas erklärt. »Gut gesagt.«
    Mochte die Wahrnehmung eines jeden auch begrenzt sein – Kellhus sah weiter als alle Übrigen. Sein Standpunkt war ein grundsätzlich anderer und markierte vielleicht den Höhenkamm der ideellen Gesamtseele der zur Beratung Versammelten. Und obwohl keiner dies auszusprechen wagte, spürte es ein jeder. Cnaiür

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