Der Prinz von Atrithau
Mitte des Hofs, wo er mit zwei Männern herumstand, die der Scylvendi nicht kannte: einem kaiserlichen Offizier und einem Tempelritter. Morgendliche Wolken wanderten langsam über den Himmel, und ihr Schatten sprenkelte die in der Sonne liegenden Hügel, die den Patio der Villa vor allem im Süden und Westen überragten.
Caraskand – die Stadt, die zu ihrem Grab geworden war.
Das hat er nur getan, um mich zu ärgern. Um mich an den Mann zu erinnern, den ich hasse!
Proyas entdeckte ihn zuerst. »Cnaiür – gut, dass du…«
»Ich lese nicht«, knurrte der Scylvendi und warf ihm das zerknüllte Blatt vor die Füße. »Wenn du dich mit mir beraten willst, schick mir Worte, keine Kritzeleien.«
Die Miene des Prinzen verdüsterte sich. »Aber natürlich«, sagte er knapp und nickte den beiden Fremden zu, als versuchte er, einen vagen Anschein von Jnan aufrechtzuerhalten. »Diese Männer haben ein Anliegen und wollen sich meine Unterstützung sichern. Ich möchte, dass du dich zu dem äußerst, was sie vorzutragen haben.«
Mit plötzlichem Entsetzen musterte Cnaiür den kaiserlichen Offizier und erkannte die Insignien am Kragen seines Harnischs. Und dann war da noch der blaue Umhang…
Der Mann runzelte die Stirn und tauschte mit seinem Begleiter ein vielsagendes Lächeln.
»Auch sein Verstand magert offenbar ab«, sagte der Offizier mit einer Stimme, die Cnaiür nur zu gut kannte. Plötzlich erinnerte er sich, wie sie über die Leichen seiner Landsleute gedrungen war… nach der Schlacht am Kiyuth. Ikurei Conphas stand vor ihm – der Oberbefehlshaber der Nansur! Wieso hatte er ihn nur nicht sofort erkannt?
Aber der Irrsinn lichtet sich!
Cnaiür blinzelte und sah sich auf Conphas’ Brust sitzen und ihm die Nase absäbeln. »Was will er?«, raunzte er Proyas an. Dann warf er dem zweiten Besucher einen raschen Blick zu und stellte fest, dass er auch ihn schon gesehen hatte, sich aber nicht an seinen Namen erinnern konnte. Ein kleiner goldener Stoßzahn hing am Hals des Kommandierenden Generals der Tempelritter.
Statt Proyas antwortete Conphas. »Was ich will, du rüpelhafter Barbar? Die Wahrheit will ich.«
»Die Wahrheit?«
»Sarcellus behauptet, Neuigkeiten aus Atrithau zu haben«, erklärte Proyas.
Cnaiür musterte den Ritter und bemerkte nun erst die Bandagen an seinen Händen und das seltsame Geflecht hochroter Linien in seinem feisten Gesicht. »Aus Atrithau? Wie das denn?«
»Drei Männer hat fromme Gewissensnot geplagt, und nun haben sie eine Aussage gemacht«, begann Sarcellus. »Sie schwören, ein Mann, der in der Wüste umgekommen ist, früher aber mit Karawanen in den hohen Norden, also auch nach Atrithau, gezogen sei, habe ihnen erzählt, Prinz Kellhus könne unmöglich der sein, der er zu sein behauptet.« Der Tempelritter lächelte seltsam – offenbar waren seine Verbrennungen (oder was sein Gesicht sonst entstellt haben mochte) sehr schmerzhaft. »Was alle Welt in Atrithau beschäftigt«, fuhr Sarcellus unerbittlich fort, »ist die Kinderlosigkeit von König Aethelarius. Das Haus Morghund steht vor dem Aussterben. Also ist Anasûrimbor Kellhus ein Hochstapler.«
Das leise Trommeln der Kianene drang durch die Stille. Cnaiür wandte sich wieder an Proyas. »Und wobei wollen sie deine Unterstützung?«
»Antworte gefälligst auf meine Frage!«, polterte Conphas.
Ohne den Neffen des Kaisers zu beachten, sahen Cnaiür und Proyas einander ehrlich und einverständig in die Augen. Trotz ihrer Streitereien waren ihnen solche Blicke in den letzten Wochen erschreckend selbstverständlich geworden.
»Mit meiner Unterstützung glauben sie, gegen Kellhus Anklage erheben zu können, ohne in diesen Mauern einen Bürgerkrieg zu entfachen«, meinte Proyas.
»Sie wollen Anklage gegen Kellhus erheben?«
»Ja – wie das Gesetz des Stoßzahns es für falsche Propheten vorsieht.«
Cnaiürs Miene verfinsterte sich. »Und warum brauchst du dabei mein Wort?«
»Weil ich dir vertraue.«
Cnaiür schluckte. Diese Schurken!, fuhr es ihm durch den Kopf.
Besorgnis huschte über Conphas’ Gesicht.
»Anscheinend will der berühmte Prinz von Conriya mit Gerüchten nichts zu tun haben«, meinte Sarcellus.
»Nicht, wenn es sich um Angelegenheiten handelt, die unter einem so unglücklichen Stern stehen!«, stieß Proyas hervor.
Cnaiür musterte den Tempelritter und fragte sich, wie er zu so seltsamen Verbrennungen im Gesicht gekommen sein mochte. Er dachte an die Schlacht von Anwurat und an die Lust, mit der er
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