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Der Prinz von Atrithau

Der Prinz von Atrithau

Titel: Der Prinz von Atrithau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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sich mittels Hexenkunst an ihren Feinden vorbeizumogeln, sicher strikt abgelehnt. Doch als Achamian diesen Vorschlag in Joktha gemacht hatte, hatte er sich ihm fast klaglos gefügt. Empfand er nun Reue? Oder hatte er nicht nur sein Augenlicht, sondern auch – wie Achamian – seine Bedenken verloren?
    »Ich bin blind, Akka«, fuhr Xinemus fort. »Und doch habe ich die Cishaurim gesehen – ich habe sie sehen gesehen!«
    Achamian schürzte die Lippen, denn in der Stimme seines Freundes lag eine von Enttäuschungsangst umwölkte Hoffnung, die ihn beunruhigte.
    »In gewisser Weise hast du tatsächlich gesehen«, begann er vorsichtig. »Es gibt viele Arten des Sehens. Und wir alle haben Augen unter der Haut. Deshalb greift es zu kurz, den Verlust des Augenlichts mit Blindheit gleichzusetzen.«
    »Und die Cishaurim?«, fragte Xinemus angespannt. »Sehen sie mit diesen anderen Augen?«
    »Die Cishaurim blenden sich, um – wie sie sagen – besser ins magische Zwischenreich zu sehen. Einige behaupten, das sei der Schlüssel ihrer Metaphysik.«
    »Also…«, begann Xinemus und konnte seine Erregung nicht länger beherrschen.
    »Jetzt nicht, Xin«, sagte Achamian, da er den Anführer der fünf Ritter, einen cholerischen Lehnsmann namens Anmergal, vom Tor auf sie zukommen sah. »Ein anderes Mal…«
    In gebrochenem, aber verständlichem Scheyisch tat Anmergal kund, Proyas’ Leute hätten sich bereit erklärt, sie aufzunehmen – und zwar wider besseres Wissen. »Niemand nämlich stiehlt sich nach Caraskand hinein, nur hinaus«, erklärte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, stürzte er an ihnen vorbei und schrie seine Leute an. Gleichzeitig tauchten Soldaten, die zwar Gewänder der Kianene trugen, aber den schwarzen Adler des Hauses Nersei auf dem Schild hatten, aus dem Dunkel auf, und kurz darauf befanden Achamian und Xinemus sich schon im Quartier des Proyas.
    Ein abgezehrter Haushofmeister begrüßte sie. Seine schwarzweiße Livree war zwar verschlissen, musste aber einmal erstklassig ausgesehen haben. Mit Soldaten im Schlepp führte er die Ankömmlinge einen mit Teppichen ausgelegten Flur entlang. Sie kamen an einer Einheimischen – sicher einer Sklavin – vorbei, die auf der Schwelle eines Zimmers kniete. Achamian war bestürzt, und zwar nicht über ihre offensichtliche Angst, sondern darüber, dass sie die erste Einheimische war, die er in Caraskand zu Gesicht bekam.
    Kein Wunder, dass die Stadt ihm wie ein Grab erschienen war.
    Sie kamen um eine Ecke und erreichten ein großes Vorzimmer. Zwischen mächtigen Säulen, die wohl aus Nilnamesh stammten, befand sich eine halb geöffnete Tür aus angelaufener Bronze. Der Haushofmeister steckte den Kopf hinein, nickte, drückte die Tür auf und forderte die beiden nach einem nervösen Blick auf Xinemus mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen. Achamian ärgerte sich darüber, dass ihm das Herz in die Hose gesackt war.
    Dann stand er vor Nersei Proyas und konnte ihn nur anstarren.
    Obwohl er ausgezehrter und viel dünner als früher war und ihm die Leinentunika schlaff von den Schultern hing, hatte sich das Aussehen des Prinzen von Conriya eigentlich kaum verändert. Er hatte noch immer den schwarzen Lockenschopf, über den seine Mutter geschimpft und den sie doch über alles geliebt hatte. Der gestutzte Bart rahmte einen Unterkiefer, der zwar nicht mehr jugendlich wie einst, aber markant wie zu alten Zeiten war. Noch immer spielten zahllose Falten über seine nervöse Stirn. Und natürlich hatte er die leuchtend braunen Augen, die anscheinend tief genug waren, um jede Mixtur selbst gegensätzlichster Leidenschaften auszudrücken.
    »Was ist?«, fragte Xinemus. »Was geht hier vor?«
    »Proyas…«, begann Achamian und räusperte sich. »Wir stehen vor Proyas, Xin.«
    Der Prinz von Conriya musterte Xinemus ausdruckslos. Dann kam er zwei Schritte hinter einem herrlich gearbeiteten Tisch vor, der offenbar in seinem Schlafzimmer stand. Wie aus einer Erstarrung erwacht, fragte er schließlich: »Was ist passiert?«
    Achamian sagte nichts. Ein Sturm unerwarteter Gefühle machte ihn sprachlos. Er spürte sein Gesicht vor Wut heiß werden. Xinemus stand reglos neben ihm.
    »Heraus damit«, befahl Proyas, und seine Stimme klang sehr verzweifelt. »Was ist passiert?«
    »Die Scharlachspitzen haben ihm die Augen ausgestochen«, sagte Achamian ruhig. »Damit… damit er…«
    Unvermittelt stürzte der junge Prinz auf Xinemus zu und umarmte ihn stürmisch – nicht Wange an Wange, wie es

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