Der Prinz von Atrithau
ihre Kälte in sich übergehen spüren.
Atme! Atme!
Wie starr sie war. Unglaublich starr.
Vater, bitte! Lass sie wieder atmen!
Ich kann nicht mehr.
Wie hatte ihr geschundenes Gesicht je lächeln können?
Konzentrier dich! Was geschieht hier?
Alles ist in Unordnung. Und sie haben sie getötet. Sie haben meine Frau ermordet.
Ich habe sie ihnen überlassen.
Was hast du gesagt?
Ich habe sie ihnen überlassen.
Warum hast du das getan?
Für dich…
Für diese Leute, diese Mörder.
Er schlief ein. Kaltes Wasser lief über Blutergüsse und offene Wunden.
Dann träumte er von dunklen Tunneln und einer müden Erde.
Und von einem Bergrücken, der wie die Hüfte einer Schlafenden aussah und sich vom Nachthimmel abhob.
Von einem Bergrücken, auf dem zwei Umrisse zu sehen waren, deren Schwarz sich deutlich vor dem leuchtenden Sternenhimmel abzeichnete.
Der Umriss eines Mannes, der wie ein Affe am Boden hockte, dessen Beine aber gekreuzt waren wie die eines Priesters.
Und der Umriss eines Baums mit prächtig ausgreifender Krone, die aussah, als wollte sie den ganzen Nachthimmel bedecken.
Und um den Nagel des Himmels kreisten die Sterne wie Wolken, die der Wind übers winterliche Firmament treibt.
Und Kellhus musterte die Gestalt und den Baum, ohne sich bewegen zu können. Das Firmament aber kreiste, als verginge Nacht für Nacht, ohne dass es Tag wurde.
Und vor dem kreisenden Himmelsgewölbe fragte die Gestalt aus einer Million Kehlen und mit einer Million Stimmen:
WAS SIEHST DU?
Dann erhob sie sich. Ihre Hände waren gefaltet wie die eines Mönchs, ihre Beine aber gebogen wie die eines Tiers.
SAG ES MIR!
Welten heulten in panischer Angst.
Der Kriegerprophet erwachte, und seine Haut kribbelte dort, wo sie die Wange einer Toten berührte.
Erneut durchzuckte es ihn.
Vater? Was geschieht mit mir?
Schmerz für Schmerz veränderte sein Gesicht und verwandelte es in das Antlitz eines Fremden.
Du weinst.
Die Zaudunyani auf der Bullenhöhe erkannten Achamian sofort als Freund des Kriegerpropheten und geleiteten ihn in einen hell erleuchteten Empfangssaal, wo er den Blick über elfenbeinerne Ahnentafeln wandern ließ, die in schwarz glänzenden Marmor gefasst waren. Kurz darauf erschien ein adliger Ainoni namens Gayamakri, der – wie andere ihm gesagt hatten – zu den ersten Jüngern des Dûnyain, den Nascenti, gehörte. Gayamakri begleitete ihn durch dunkle Gänge. Als Achamian ihn auf die weißgekleideten Krieger ansprach, die überall im Palast postiert waren, klagte er über Unruhen und die bösen Machenschaften der Orthodoxen. Achamian aber hatte nur Ohren für sein vor Freude hüpfendes Herz.
Endlich hielten sie vor einer stattlichen Flügeltür, deren Kirschholz mit Bronze verziert war, und der Hexenmeister dachte sich launige Bemerkungen aus, mit denen er Esmenet zum Lachen würde bringen können.
Vom Zelt eines Hexenmeisters zur Suite eines Adligen – nicht schlecht.
Er konnte ihr Lachen fast hören und ihre Augen fast sehen, in denen sicher liebende Hingabe und die Lust auf mancherlei Unfug zu entdecken wäre.
Bis wohin wirst du es wohl bei meinem nächsten Tod bringen? Bis auf die Andiamin-Höhen?
»Vermutlich schläft sie«, sagte Gayamakri entschuldigend. »Die Ereignisse haben ihr stark zugesetzt.«
Launige Bemerkungen… Was hatte er sich dabei bloß gedacht? Sie würde ihn brauchen, und zwar sehr, wenn Proyas die Wahrheit gesagt hatte. Serwë war tot, Kellhus kaum mehr lebendig und der Heilige Krieg am Verhungern… Sie würde seine bergende Gegenwart brauchen. Und wie er sie umarmen und halten würde!
Unvermittelt fuhr Gayamakri herum und ergriff seine Hände. »Bittel«, keuchte er. »Ihr müsst ihn retten! Unbedingt!« Er fiel auf die Knie und klammerte sich leidenschaftlich an Achamian. »Ihr wart sein Lehrer!«
»Ich werde tun, was ich kann«, stammelte der Hexenmeister. »Das verspreche ich Euch.«
Gayamakri drückte die Stirn an Achamians Hände. »Danke!«
Der Hexenmeister wusste nicht, was er sagen sollte, und zog den Nascenti auf die Beine, der gleich darauf an seinen gelben und weißen Gewändern zu nesteln begann, als habe er sich wieder der so lange verinnerlichten Gebote des Jnan erinnert. Achamian kam nicht umhin, Mitleid für ihn zu empfinden.
»Werdet Ihr Euer Versprechen auch halten?«, stieß Gayamakri schließlich hervor.
»Natürlich«, antwortete Achamian. »Aber zunächst muss ich mich mit Esmenet beraten – und zwar allein, versteht Ihr?«
Der Nascenti
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