Der Prinz von Atrithau
endlich loszuwerden, »dass meine Mutter sternkundig war?«
»Das ist gefährlich«, antwortete er, »besonders im Kaiserreich Nansur. Hat sie nicht gewusst, welche Strafen ihr drohten?«
Astrologie war so streng verboten wie Hexerei. Die Zukunft war zu wertvoll, um sie mit den niederen Ständen zu teilen. »Eine Hure zu sein ist besser, Esmi«, hatte ihre Mutter immer gesagt. »Steine sind nur weit ausgreifende Fäuste. Es ist besser, geschlagen als verbrannt zu werden.«
Wie alt war Esmenet da gewesen? Elf?
»Sie wusste Bescheid. Deshalb hat sie sich geweigert, mich in Astrologie zu unterrichten.«
»Sie war weise.«
Auf diese Bemerkung folgte ein nachdenkliches Schweigen. Esmenet kämpfte mit einem unerklärlichen Zorn.
»Glaubst du, die Sterne zeigen unsere Zukunft, Akka?«
Er zögerte kurz und sagte dann: »Nein.«
»Und warum nicht?«
»Die Nicht-Menschen glauben, der Himmel sei eine leere Unendlichkeit…«
»Leer? Wie kommen sie denn darauf?«
»Sie glauben sogar, die Sterne seien weit entfernte Sonnen.«
Esmenet wollte lachen, hatte aber plötzlich das Gefühl, durch ihr von der Wasseroberfläche reflektiertes Spiegelbild zu blicken. Ihr war, als würde die Himmelssphäre sich in der Unendlichkeit auflösen, als würde Leere auf Leere gehäuft und als wären Sterne (nicht Sonnen) Staubpartikel, die in einem Lichtstrahl schweben. Sie hielt den Atem an. Der Himmel war zu einer riesigen gähnenden Grube geworden. Ohne nachzudenken, krallte sie sich ans Gras, als läge sie nicht auf dem Boden, sondern stünde auf einem Felsvorsprung.
»Wie können die so was glauben?«, fragte sie erneut. »Die Sonne zieht doch ihre Bahnen übers Firmament. Und die Sterne kreisen um den Nagel des Himmels.« Plötzlich kam ihr der Gedanke, der Nagel des Himmels könnte eine ganz andere Welt sein, in der es ihrerseits Millionen Sonnen gab. Aber was für ein Himmel wäre das!?
Achamian zuckte die Achseln. »Vermutlich haben die Inchoroi ihnen erzählt, sie seien von Sternen, die einmal Sonnen waren, hierher gesegelt.«
»Und du glaubst den Nicht-Menschen? Und bezweifelst darum, dass unsere Zukunft in den Sternen steht?«
»Ich glaube ihnen.«
»Aber du glaubst doch, dass die Zukunft schon geschrieben steht…« Die Luft zwischen ihnen schien zu erstarren, und das Gras ringsum wirkte wie zu Draht verwandelt. »Du glaubst, Kellhus ist der Vorbote.«
Sie begriff, dass sie schon die ganze Zeit von Kellhus gesprochen hatte.
Zwischen ihnen war es einen Moment lang still. Über die eingestürzten Mauern klang das Lachen von Kellhus und Serwë.
»Ja«, sagte Achamian.
Esmenet hielt erneut den Atem an. »Und wenn er mehr ist? Mehr als der Vorbote…«
Achamian rollte sich auf die Seite und stützte den Kopf in die Hand. Jetzt erst sah Esmenet, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Sie begriff, dass er schon die ganze Zeit geweint hatte.
Er leidet. Mehr als ich ahne.
»Du verstehst, warum er mich quält, oder?«, fragte er.
Ihr Körper erinnerte sich plötzlich des Wegs, den Sarcellus’ Finger an der Innenseite ihres Schenkels genommen hatte, und es schauderte sie. Dann glaubte sie, Serwë in der Dunkelheit stöhnen und keuchen zu hören.
»Wir haben uns offenbar missverstanden«, hatte Kellhus am Nachmittag gesagt. »Ich wollte nicht wissen, wie es dir gefallen hat, mit Unbekannten zu schlafen – ich wollte wissen, womit sich diese Erfahrung vergleichen lässt.«
Sie wollte nicht länger davonlaufen.
»Die Mandati dürfen es nicht erfahren, Akka. Wir müssen diese Last allein tragen.«
Achamian schürzte die zitternden Lippen und schluckte. »Wir?«
Esmenet sah wieder zu den Sternen hinauf. Noch eine Sprache, die sie nicht lesen konnte.
»Ja, wir.«
5. KAPITEL
DIE EBENEN VON MENGEDDA
Ihr fragt, warum ich erobern muss? Krieg schafft klare Verhältnisse. Leben oder Tod. Freiheit oder Sklaverei. Krieg schwemmt die Ablagerungen aus dem Wasser des Lebens.
Triamis I. Tagebücher und Dialoge
NAHE DEN EBENEN VON MENGEDDA,
FRÜHSOMMER 4111
Lange bevor sie die zertrampelten Weiden mit ihren erloschenen Feuerstätten erblickten, wusste Cnaiür schon, dass etwas nicht stimmte: Am Horizont war zu wenig Rauch zu sehen, und zu wenig Aasfresser standen am Himmel. Als er Proyas das sagte, erbleichte der Prinz, als hätte Cnaiür ihm eine nagende Sorge bestätigt. Als sie vom letzten Hügel aus sahen, dass nur noch die Männer aus Conriya und die Nansur vor den Mauern von Asgilioch
Weitere Kostenlose Bücher