Der Prinz von Atrithau
Augen.
… wird er es richtig finden, nackt vor mir zu stehen.
»Einen Mann und ein Kind«, sagte Kellhus sehr viel klangvoller als zuvor und gab seiner Stimme etwas beinahe Körperliches. »Ich sehe einen Mann und ein Kind. Den Mann quält, dass er als nachgeborener Sohn so weit von den Insignien der Macht entfernt ist. Er will erzwingen, was das Schicksal ihm verweigert hat, und lebt deshalb Tag für Tag inmitten dessen, was er nicht besitzt. Er giert, Saubon, aber nicht nach Gold, sondern nach Anerkennung. Danach, dass Männer ihn ansehen und sagen: ›Das ist ein König eigenen Rechts!‹«
Kellhus starrte in die Schwindel erregende Leere zu seinen Füßen. Seine Augen waren glasig vom Wirbel seiner Visionen.
Saubon sah ihn völlig entsetzt an. »Und das Kind? Was ist mit dem Kind?«
»Es duckt sich noch unter der Hand des Vaters. Es wacht mitten in der Nacht auf – nicht, weil es sich nach Anerkennung sehnt, sondern danach, überhaupt einmal wahrgenommen zu werden… Niemand kennt es. Niemand mag es.«
Kellhus wandte sich Saubon zu, und in seinen Augen leuchteten Einsicht und gespenstisches Mitgefühl. »Ich könnte fortfahren…«
»Nein«, stammelte Saubon, als erwachte er aus einer Trance. »Hört auf. Das ist genug.«
Aber was war genug? Saubon sehnte sich nach Vorwänden. Was aber würde er ihm dafür geben? Wenn es so viele veränderliche Größen gab, war jede Entscheidung ein Wagnis.
Und wenn ich die falsche Entscheidung treffe, Vater?
»Habt Ihr das gehört?«, rief Kellhus und sah Saubon plötzlich tief erschrocken an.
Der Prinz von Galeoth sprang vom Rand der Klippe zurück. »Was denn?«
Kellhus schwankte erst, stolperte dann. Saubon riss ihn vom Abgrund weg.
»Marschiert«, keuchte der Dûnyain und war Saubons Gesicht dabei so nah, dass er ihn hätte küssen können. »Das Schicksal meint es gut mit Euch… Aber Ihr müsst dafür sorgen, dass die Tempelritter…« Er öffnete grenzenlos erstaunt die Augen, als wollte er sagen: Das kann doch nicht die Botschaft sein!
Es gab Entwicklungen, die ließen sich nicht im Vorhinein kalkulieren. Manche Wege musste man einschlagen, um zu sehen, was kam. Auch wenn es sehr riskante Wege waren.
»… Ihr müsst dafür sorgen, dass die Tempelritter bestraft werden«, sagte Kellhus.
Als Kellhus und Saubon gegangen waren, saß Esmenet schweigend da und sah ins Feuer oder musterte das Mosaik des Letzten Propheten, das sich unter ihrem Lagerplatz erstreckte. Sie zog die Zehen aus dem Heiligenschein, der seine Hand umgab. Es erschien ihr als Sakrileg, auf dem Bild des Heiligen herumzutrampeln.
Aber was ging sie das eigentlich an? Sie war verdammt. Nie war das offensichtlicher gewesen als jetzt.
Jetzt, da Sarcellus hier war!
Bedrängnis über Bedrängnis. Warum hassten die Götter sie nur so sehr? Warum waren sie so grausam?
In silbernem Kettenhemd und weißem Umhang prächtig anzusehen, plauderte Sarcellus liebenswürdig mit Serwë über Kellhus. Er wollte wissen, woher er kam, wie sie sich begegnet waren und dergleichen. Serwë genoss seine Aufmerksamkeit in vollen Zügen, und ihre Antworten machten deutlich, dass sie für den Prinzen von Atrithau mehr als nur schwärmte. Sie sprach, als existierte sie nur in Beziehung zu ihm. Achamian beobachtete die beiden, schien ihnen aber nicht zuzuhören.
Ach, Akka… Woher weiß ich, dass ich dich verliere? Woher weiß ich das nur?
Esmenet fürchtete nicht, ihn zu verlieren, sondern sie wusste es. So grausam war die Welt!
Sie murmelte eine Entschuldigung, stand auf und floh langsamen, gemessenen Schritts vom Feuer.
In tiefer Dunkelheit blieb sie stehen und ließ sich auf den Stumpf einer Säule sinken. Saubons Männer waren durch die Nacht zu hören: rhythmisches Schlagen von Äxten, kehlige Rufe, derbes Gelächter. Unter dunklen Bäumen schnaubten und stampften Schlachtrösser.
Wie konnte ich das bloß tun? Hoffentlich kommt Akka nicht dahinter!
Als sie zurückblickte, stellte sie erschrocken fest, dass Achamian im orangefarbenen Schein des Lagerfeuers noch immer zu erkennen war. Sie lächelte über seine glücklos wirkende Gestalt und die fünf weißen Strähnen seines Barts. Er schien mit Serwë zu sprechen.
Wo war Sarcellus geblieben?
»Hier ist es bestimmt nicht leicht für eine Frau«, sagte eine Stimme von hinten.
Esmenet sprang auf und wirbelte herum. Ihr Herz raste vor Bestürzung und Sorge. Dann sah sie Sarcellus angeschlendert kommen. Natürlich…
»Viele Schweine«, fuhr er
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