Der Professor
sehen.
»Ich denke, wir wissen beide, was zu tun ist«, sagte Brian.
Adrian machte sich auf seinem Autositz klein und hoffte, dass sein Besuch Mark Wolfe nicht argwöhnen ließ, er könnte ab jetzt beschattet werden. Hinter Mauervorsprüngen und in Winkeln, aus denen die Bäume mit ihrem ersten zarten Laub die aufgehende Sonne herausfilterten, hatten sich die morgendlichen Schatten eingenistet. Die Welt vor seinem Fenster erschien Adrian weder kahl und nackt noch sommerlich bekleidet. Manchmal kam es ihm so vor, als wartete zum Jahreszeitenwechsel eine Naturgewalt auf ein Startzeichen, von einem Tag auf den anderen von Winter auf Frühling umzuschalten.
Er wusste nicht, wie viele Jahreszeitenwechsel ihm noch blieben. Und wie viele er noch mitbekommen würde. Er drehte sich auf seinem Sitz nach Brian um, doch sein Bruder war nicht mehr bei ihm. Er fragte sich, wieso er seine Halluzinationen nicht heraufbeschwören konnte, wenn er sie brauchte. Es wäre beruhigend gewesen, jemanden zu haben, mit dem er sprechen konnte, und er hoffte, dass der selbstsichere Ton seines Bruders seiner Entschlusskraft Auftrieb geben würde.
Vermutlich überschritt er mit seinem Vorhaben die Grenze der Legalität. Falls es nicht illegal war, wäre das bedauerlich. Auf jeden Fall war es unmoralisch, und in dieser Hinsicht hoffte er auf die Hilfe seines Bruders, des Spitzenanwalts, denn Anwälte taten sich mit den moralischen Grauzonen meist weniger schwer. »Brian?«
Schweigen. Er hatte damit gerechnet. Er blickte erwartungsvoll zur Tür hinüber. Mark Wolfe müsste jeden Moment herauskommen, hoffte er, während er fröstelte.
Er dachte an seinen Bruder. Als sie klein waren, hatte er immer darüber gestaunt, wie furchtlos Brian war. Wenn Adrian und seine Freunde etwas taten – schwimmen, Ball spielen, Unfug treiben –, war Brian immer mit von der Partie und der Erste, der die Hand hob, wenn sie einen Streich ausheckten. Adrian erinnerte sich an eine Gelegenheit, als sie von ihren Eltern zusammengestaucht worden waren. Brian war ermahnt und dann in sein Zimmer geschickt worden. Adrian bekam noch einen Rüffel.
Du solltest auf deinen kleinen Bruder aufpassen
und
Adrian, wie konntest du das zulassen
… Er hatte ihnen nicht erklären können, dass trotz ihres Altersunterschieds offenbar Brian der Anführer war.
Falsch herum,
dachte er.
Oder aber wir sind falsch herum aufgewachsen.
Doch dann sagte er laut: »Aber deshalb verstehe ich noch lange nicht, wieso du dich erschossen hast.«
Adrian hatte das Gefühl, dass ihm alles in seinem Leben außer seiner Arbeit ein Rätsel war. Wieso hatte Cassie ihn geliebt? Wieso war Tommy gestorben? Was hatte mit Brian nicht gestimmt, dass Adrian von seinem Vorhaben nichts mitbekommen hatte? Einen Vorzug schien seine Krankheit zu haben. All diese Fragen, all die Trauer, die ihn überallhin begleitete, würden sich bald in einem Nebel auflösen. Er atmete aus.
Ich bin schon tot,
dachte er.
Er hörte, wie eine Wagentür zufiel. Ein kurzer Blick, und er sah, wie Mark Wolfe nicht anders als am Vortag aus seiner Einfahrt rollte. Der Mann fuhr weg.
Adrian sah auf die Uhr. Sie war ein Geschenk von seiner Frau an ihrem 25. Hochzeitstag gewesen. Wasserdicht – auch wenn er nur selten ins Wasser ging. Stoßfest – auch wenn er sie nie fallen ließ. Mit einer Batterie auf Lebenszeit –
nun ja, mit ziemlicher Sicherheit wird sie noch die Zeit ansagen, wenn ich nicht mehr bin
. Adrian hatte vor, eine Viertelstunde zu warten. Der kleine Zeiger sauste in fast hypnotischem Takt um das Zifferblatt.
Als er sicher sein konnte, dass Mark Wolfe zu seinem Job im Baumarkt unterwegs war, stieg Adrian aus und lief zügig zu dem adretten Haus hinüber. Er klopfte laut an und drückte die Klingel. Als die Tür einen Spalt aufging und die Mutter mit etwas leerem Blick um die Ecke spähte, trat Adrian vor.
»Mark ist nicht da«, sagte sie sofort.
»Das macht nichts«, erwiderte Adrian. Er drückte energisch gegen die Tür. »Er hat gesagt, ich sollte herkommen und ein bisschen Zeit mit Ihnen verbringen.«
»Das hat er getan?« Verwirrung. Adrian machte sie sich zunutze. Er kannte die Krankheit der Frau vermutlich besser als seine eigene.
»Natürlich. Wir sind alte Freunde. Jetzt erinnern Sie sich, nicht wahr?« Er wartete keine Antwort ab. Er drängte sich einfach ins Haus und marschierte geradewegs ins Wohnzimmer. Dort stand er fast an derselben Stelle wie am Abend zuvor.
»Ich kann mich nicht an Sie
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