Der Professor
Nähe des Eingangs gestapelt waren. Sie lagen alle säuberlich gefaltet neben ihrem Rucksack, als warteten sie dort frisch gewaschen und gebügelt auf sie. Es war nicht dasselbe, wie angezogen zu sein, doch allein schon die Möglichkeit, wieder in ihre Jeans und ihr T-Shirt zu schlüpfen, hatte sie mit Hoffnung erfüllt.
Die Kamera, die unbeirrbar auf sie gerichtet war, hatte ihr zu denken gegeben. Jennifer war klar, dass es demnach keine Privatsphäre gab. Als ihr diese Verletzung bewusst wurde, war sie rot geworden, doch im nächsten Moment hatte sie begriffen, dass, wer auch immer sie beobachtete, nicht sie zu sehen bekam, sondern eine Gefangene. Sie war nach wie vor anonym. Vielleicht war ihr Körper bloßgestellt worden, aber nicht sie. Es bestand ein Unterschied zwischen dem Menschen, der sie war, und dem, was sie tat. Irgendeine Doppelgängerin von Jennifer, die sie Nummer 4 nannten, machte dies oder das, während die echte Jennifer ihren Teddy festhielt und Lieder sang und herauszufinden versuchte, in was sie hineingeraten war. Sie wusste, dass es ein hartes Stück Arbeit werden würde, die wahre Jennifer zu beschützen und den Mann und die Frau, ihre Kerkermeister, in dem Glauben zu wiegen, die Pseudo-Jennifer sei echt.
Und noch etwas machte die Kamera ihr klar. Sie bedeutete, dass sie
gebraucht
wurde. Sie wusste zwar nicht, was für ein Drama hier inszeniert wurde, doch eins war klar: Sie war darin die Hauptdarstellerin. Sie wusste nicht, wie lange sie diese unverzichtbare Funktion am Leben erhalten würde, doch zumindest gab sie ihr eine
gewisse
Zeit, und sie war entschlossen, diese Zeit zu nutzen.
»Nummer 4, ich werde einen Stuhl ans Fußende deines Bettes stellen. Du wirst dich dorthin begeben und dich daraufsetzen.«
Jennifer schwang die Beine vom Bett. Sie stand auf. Dann räkelte sie sich, hob zuerst ein Bein, dann das andere und spannte die Muskeln. Sie ging auf die Zehenspitzen, dann auf die Fersen und wiederholte die Übung mehrfach schnell hintereinander. Danach drehte sie einen Arm auf den Rücken und dehnte den Oberkörper. Sie wiederholte die Bewegung mit dem anderen Arm. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln zusammenzogen und entspannten und ihr die Steifheit aus den Gliedern wich.
»Dies ist keine Gymnastikstunde, Nummer 4, tu auf der Stelle, was ich dir sage.«
Jennifer drehte den Kopf hin und her, um den Hals zu lockern, und tastete sich behutsam zum Fußende hinüber, indem sie sich mit einer Hand an der Matratze orientierte. Sie streckte die Hand aus und fühlte die Holzlehne eines Stuhls. Sie setzte sich wie ein mutwilliges Mädchen im Katechismusunterricht, das Angst vor der Nonne hat, in einer betont artigen Pose hin – kerzengerader Rücken, die Hände auf dem Schoß gefaltet, die Knie zusammengedrückt. Sie fühlte, dass die Frau näher auf sie zukam. In Erwartung weiterer Anordnungen drehte sie sich halb zu ihr um.
Der Schlag traf sie überraschend und brutal. Die flache Hand, quer über der Wange, hätte sie fast zu Boden geworfen. Der Schock war so qualvoll wie der Schlag. Hinter der Augenbinde sah sie Sternchen, und ihr Gesicht durchzuckte ein so heftiger Schmerz, als hätten sämtliche Nervenenden quer über ihren Körper einen Elektroschock erlitten. Schwindel und Schmerz bildeten eine Mischung, von der sich ihr alles im Kopf drehte.
Beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren und wäre vom Stuhl gefallen, und sie schnappte nach Luft, als hätte sie jemand gewürgt. Sie wusste, dass sie ein paar wimmernde Laute wie ein Tier von sich gab, doch sie konnte nicht sagen, ob sie im Raum oder nur in ihrem Kopf widerhallten. Sie hielt sich am Sitz des Stuhls fest, denn ihr war klar, dass sie umso mehr getreten und verletzt werden würde, falls sie zu Boden fiel, auch wenn sie nicht wusste, wieso. Sie wollte etwas sagen, doch ihr kam kein Wort über die Lippen, nur Würgen und Schlucken.
»Begreifen wir die Situation jetzt ein bisschen besser, Nummer 4?«, fragte die Frau.
Jennifer nickte.
»Wenn ich dir einen Befehl erteile, hast du ihn zu befolgen. Ich denke, das hatten wir dir bereits klargemacht.«
»Ja. Ich wollte nur … mir war nicht bewusst …«
»Hör mit dem Gejammer auf.«
Sie hörte auf.
»Gut. Ich habe ein paar Fragen an dich. Du wirst sie genau beantworten. Beschränke dich auf die Informationen, um die du gebeten wirst. Ich will, dass du den Kopf still hältst und geradeaus siehst.«
Jennifer nickte. Sie spürte, wie die Frau sich dichter zu ihr
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