Der Professor
Nummer 4, ohne es zu wissen, eine Narbe an ihrer Haut hinterlassen würde, packte sie die kalte Wut. Jeder Makel an ihrem Körper, die Möglichkeit, ihr Körper könnte einmal nicht mehr perfekt sein, machte Linda Angst. »Ist halb so wild«, sagte sie, wenn auch mit wenig Überzeugungskraft. Sie hatte in diesem Moment nur das zügellose Verlangen, Nummer 4 auf unvergessliche Weise wehzutun.
»Dann mach ich dir einen Verband drum«, sagte Michael.
Sie streckte die Hand aus, und er nahm sie wie ein Bräutigam vor dem Traualtar. Jetzt ohne zu lachen. Er hielt den Finger ans Licht und tupfte ihn mit Watte trocken. Dann hob er ihre Hand wie ein mittelalterlicher Freier an die Lippen und küsste sie.
»Ich glaube«, sagte sie langsam und endlich wieder mit einem Lächeln, »es wird Zeit, dass Nummer 4 etwas Neues lernt.«
Michael nickte. »Eine neue Bedrohung?«, fragte er.
Linda grinste. »Eine alte Bedrohung im neuen Gewand.«
29
M it der Waffe deutete Adrian auf das Innere des Hauses. Das Gewicht des Revolvers schien zu schwanken – eben noch leicht und luftig, im nächsten Moment so schwer wie ein eiserner Amboss. Er versuchte, innerlich eine Checkliste durchzugehen:
Volles Magazin eingelegt?
Abgehakt.
Patronen in der Kammer?
Abgehakt.
Entsichert?
Abgehakt.
Finger am Abzug?
Abgehakt.
Bereit zu schießen?
Er bezweifelte, dass er dazu in der Lage war, auch wenn er mit seiner Geste das Gegenteil nahegelegt hatte, auch wenn er bedachte, dass Mark Wolfe eindeutig nicht davor zurückschrecken würde, Unheil über unschuldige Kinder zu bringen. Er hörte, wie ihm Brian ins Ohr flüsterte:
Wenn du ihn erschießt, kommst du ins Gefängnis, dann ist niemand mehr da, der nach Jennifer sucht, und sie ist für immer verschwunden.
Der praktische Einwand des Anwalts war typisch Brian. Der nüchtern sachliche Ton war typisch Brian. Doch Adrian wusste, dass sein Bruder nicht bei ihm war, nicht in diesem Moment.
Ich bin auf mich gestellt,
dachte er. Doch dann widersprach er sich.
Nein, bin ich nicht.
Er kämpfte gegen seine Verwirrung an.
Adrian beobachtete, wie Wolfe mit verschlagener Miene offenbar dabei war, sich in sein Wohnzimmer zurückzuschleichen. Die Gegenwart eines Mannes, dem es ziemlich gleichgültig war, was seine Begierden anrichteten, war ihm fast unerträglich. Gewöhnliche Menschen denken an die Folgen ihres Handelns. Die Mark Wolfes dieser Welt nicht. Sie denken nur an ihre eigenen Bedürfnisse.
Die Neunmillimeter fühlte sich plötzlich kalt in der Hand an und dann wieder glühend heiß, als hätte er sie gerade aus dem Feuer gezogen. Er packte fester zu.
Aber wer weiß, ob ich so viel besser bin.
Bei jedem Schritt hielt er sich einen Vortrag.
Wolfe hatte ein Grinsen auf den Lippen, das, wie Adrian nur vermuten konnte, symptomatisch für seine Krankheit war. Wenigstens hatte seine eigene Krankheit einen Namen und eine Diagnose und folgte einem erkennbaren Muster an Wahn und Desintegration. Mark Wolfes Zwanghaftigkeit dagegen führte auf ein Terrain, auf dem die Medizin nicht viel auszurichten vermochte. Doch beide waren sie, jeder auf seine eigene Weise, verloren.
»Na schön, alter Knabe«, sagte Wolfe mit spöttisch plumper Vertraulichkeit. »Hören Sie auf, mit der Kanone rumzuwedeln, und sagen Sie, was Sie wissen wollen.« Er trat ins Wohnzimmer. Trotz des Revolvers zwischen ihnen gab sein Ton kaum zu erkennen, dass er sich von Adrian bedroht fühlte. »Aber zuerst will ich diesen Laptop.«
Adrian zögerte. »Der scheint Ihnen wichtig zu sein.«
»Ich will Ihnen sagen, was damit ist, Professor, er
geht Sie nichts an
.«
»Gehört es nicht zu Ihren Bewährungsauflagen, Mister Wolfe, dass Sie einige Dinge, die sich da auf diesem Computer tummeln, nicht ansehen dürfen? Was für Probleme bekämen Sie wohl, wenn meine Freundin bei der Polizei
diese
Dateien zu Gesicht bekäme im Unterschied zu denen auf dem Laptop, den Sie ihr gegeben haben?«
Wolfe lächelte. Ein künstliches Lächeln, das nichts mit Humor zu tun hatte. »Sie wären nicht hier und würden mit dieser Waffe herumfuchteln, wenn Sie die Antwort auf diese Frage nicht schon wüssten.«
Hinter ihm trat Rose ins Wohnzimmer. Sie hatte ein Geschirrtuch in der Hand, und sie lächelte, als sie Adrian sah.
»Oh, Marky, dein Freund ist wieder da«, sagte sie mit strahlendem Gesicht. Offenbar hatte sie die Automatik in Adrians Hand noch nicht gesehen oder aber nicht begriffen, was das für ein Ding war und wozu es diente, jedenfalls verlor sie
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