Der Professor
seinen Sessel. Adrian rutschte auf dem Sofa herum und beäugte Wolfe, während er zugleich mit halber Aufmerksamkeit die Comedys verfolgte. Er hatte noch nie jemanden mit vorgehaltener Waffe bedroht, und er glaubte nicht, dass er in der Rolle überzeugte. Doch wen kümmerte das schon?
Die ganze Szene hatte etwas Surreales. Er fühlte sich wie auf einer avantgardistischen Bühne, nur dass der Souffleur fehlte, um ihm seinen Text zuzuflüstern. Die Titelmelodie am Ende von
Cheers
erfüllte den Raum, Mark Wolfe nahm die Fernbedienung und knipste aus. »Das genügt für heute, Mom«, sagte er. »Der Professor und ich haben noch was Geschäftliches zu erledigen. Zeit fürs Bett.«
Rose sah ihn traurig an. »Für heute Abend ist schon alles vorbei?«, fragte sie.
»Ja.«
Die Frau seufzte und steckte ihr Strickzeug wieder in den Korb. Sie blickte auf. »Hallo«, sagte sie zu Adrian. »Sind Sie ein Freund von Mark?« Adrian antwortete nicht.
»Ins Bett, Mutter«, sagte Wolfe. »Du bist müde. Du musst deine Pillen nehmen und schlafen gehen.«
»Es ist schon Zeit, ins Bett zu gehen?«
»Ja.«
»Gibt’s jetzt nicht Abendessen?«
»Nein. Du hast schon gegessen.«
»Dann sollten wir jetzt unsere Serien sehen.«
»Nein, Mutter. Schluss für heute Abend.« Mark Wolfe stand auf. Er ging zu seiner Mutter und hob sie halb aus ihrem Sessel. Dann drehte er sich wieder zu Adrian um, der immer noch mit der Waffe zielte, auch wenn sie über der rasanten Abfolge von Sitcoms mit ihrem Konservenlachen und Roses Gedächtnisausfällen irgendwie ihre Wirkung verloren hatte. »Wollen Sie mich weiter überwachen?«, fragte Wolfe. »Oder sind Sie bereit zu warten, bis ich zurück bin?«
Adrian stand auf. Er wusste, dass es ein Fehler wäre, Wolfe aus den Augen zu lassen, auch wenn ihm bei diesem absurden Theater nicht klar war, wieso. Er sah Rose mit einem Lächeln an.
»Also dann«, sagte Wolfe und nahm seine Mutter bei der Hand.
Adrian hatte das Gefühl, als folgte er einer Einladung zu einem Geheimritual, wie ein Anthropologe, der mit viel Geduld endlich das Vertrauen eines archaischen Indianerstamms im Amazonasbecken errungen hat. Aus wenigen Metern Abstand sah er zu, wie der Sohn der Mutter dabei half, sich fürs Bett fertig zu machen. Er half ihr bis an die Grenze der Schicklichkeit aus den Kleidern; er drückte ihr die Zahnpasta auf die Bürste. Auf einem Nachttisch legte er eine Reihe Tabletten zurecht und reichte ihr ein Glas Wasser. Er sorgte dafür, dass sie auf die Toilette ging, und wartete geduldig vor der Tür, während er hineinrief: »Hast du Klopapier benutzt?«, und: »Hast du daran gedacht, abzuziehen?« Als sie schließlich im Bett war, deckte er sie zu, und Adrian stand die ganze Zeit mit der Waffe in der Hand dicht daneben. Er kam sich irgendwie unsichtbar vor.
Nur wenig, was er im Leben gesehen hatte, bereitete ihm so viel Angst wie das Zubettgeh-Ritual von Rose. Nicht, dass sie kindisch war, machte ihm zu schaffen. Es ging darum, dass die Alltagsroutinen den Bezug zu ihrem Denken verloren hatten. Mit jeder Handlung, jedem kleinen Moment, in dem sich zeigte, dass ihr die Welt entglitten war, führte Rose ihm vor, was mit rasender Geschwindigkeit auf Adrian zukam.
Bei mir wird es dasselbe sein, nur noch schlimmer.
Beschämt blieb er ein Stück zurück. Er hatte das Gefühl, kopfüber in so intime Einblicke gestürzt zu werden, dass er keine Worte dafür fand. Der Sexualstraftäter Mark Wolfe küsste seiner Mutter sogar liebevoll die Stirn. Als er das Licht im Schlafzimmer ausknipste, drehte er sich zu Adrian um. »Sehen Sie?«, fragte er, auch wenn sich eine Antwort erübrigte. »So läuft das. Jeden Abend.«
Wolfe drängte sich an ihm vorbei. Er strebte ins Wohnzimmer zurück. »Machen Sie die zu«, murmelte er und winkte Richtung Schlafzimmertür. Adrian drehte sich um und warf einen letzten Blick auf die Frau, die wie eine Wölbung auf dem Bett im Schatten lag.
»Vielleicht stirbt sie heute Nacht im Schlaf«, sagte Wolfe. »Aber wahrscheinlich nicht.« Adrian schloss Rose weg und folgte dem Sohn.
»Diese Polizistin«, sagte Wolfe, »mit der Sie das letzte Mal gekommen sind. Die ist wie alle anderen Bullen, mit denen ich schon zu tun hatte. Die haben’s drauf angelegt, mich zu schikanieren. Beschlagnahmen meinen Computer. Schnüffeln in meinen Zeitschriften herum. Überprüfen meine Therapie. Belästigen mich an meinem Arbeitsplatz. Sind dahinter her, dass ich nichts tue, was sie nicht wollen, zum
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