Der Professor
Preisboxerkinn«, sagte Linda. »Verdammt.«
Sie war sauer. Ihr tat die Hand weh, und Michael zeigte nicht so viel Mitgefühl, wie sie von ihm erwartet hätte. Als sie Jennifer den Fausthieb versetzte, hatte sie sich den kleinen Finger an den Zähnen des Mädchens geschnitten. Aus einer Wunde in der Nähe des Nagels quoll Blut, und sie saugte daran, während sie sich beklagte. Michael grinste, was sie nicht komisch fand.
Er ging das Medizinschränkchen des Bauernhauses durch, um irgendein antiseptisches Mittel und ein Pflaster zu finden. »Wenn du ihr einen Schlag mit der Faust verpasst«, sagte er, »trägst du vielleicht besser Schutzhandschuhe. Da liegen welche neben dem Hauptcomputer auf dem Tisch.« Er fand, was er suchte. »Das könnte brennen«, sagte er und träufelte etwas Wasserstoffperoxid auf den Schnitt. »Hast du gewusst, dass der menschliche Mund zu den gefährlichsten, von Bakterien wimmelnden Stellen des Körpers gehört?«
»Du glotzt zu viel Discovery«, sagte Linda schmollend.
»Und dass dich der Komodowaran auf dieser Insel im Pazifik mit seinem Biss töten kann, und zwar nicht, weil er giftig ist, sondern weil die Krankheitserreger, die er überträgt, nicht auf moderne Antibiotika ansprechen?«
»Animal Planet?« Linda verzog das Gesicht, als ihr das Desinfektionsmittel in die Wunde tropfte.
»Also kannst du ja das nächste Mal, wenn du denkst, sie bräuchte eine kleine Lektion, eine verdammte Echse anheuern.«
»Tut mir leid«, sagte Michael. Er wechselte augenblicklich den Ton. War beflissen. Einfühlsam. Er sah sich die gereinigte Schnittwunde an. »Ist ziemlich tief. Du könntest mit dem Truck in die Notaufnahme fahren und es nähen lassen. Das nächste Krankenhaus ist allerdings vermutlich eine Dreiviertelstunde weit weg. Ich kann hier so lange übernehmen, bis du zurück bist.«
Linda schüttelte den Kopf und sagte: »Wenn ich was draufdrücke, wird es schon verheilen.« Linda hielt einen Waschlappen über die Wunde und lief durch ihr Schlafzimmer zu einem der Fenster. »Keine Fahrten«, sagte Linda entschlossen. »Nicht, solange wir nicht wirklich etwas brauchen. Es ist nicht sinnvoll, dass uns jemand zu sehen bekommt.«
Sie blieb einen Moment stehen und starrte aus dem Fenster des Bauernhauses. Es war Spätnachmittag, und eine leichte Brise zupfte an den Blättern der Bäume, welche den Kiesweg säumten. Rechts von ihnen stand eine verwitterte rote Scheune, in der sie ihren Mercedes abgestellt und mit einer Plane zugedeckt hatten. Michaels ramponierter Truck stand draußen. Mit dem alten Vehikel passten sie sich ebenso wie mit ihren billigen Jeans und Sweatshirts an die ländliche Umgebung an, während sie in Wahrheit Seide und Haute Couture bevorzugten.
Sie liebten die Welt der Illusion, in die sie sich mit Serie Nummer 4 begaben: Sie waren das nette junge Paar, das in einer gottverlassenen Gegend von Neuengland ein Bauernhaus gemietet hatte. Der Maklerin hatten sie erzählt, Michael wolle seine Dissertation fertigschreiben und sie selber arbeite an ihren Skulpturen – diese Mischung aus akademischer und exotischer Tätigkeit hatte alle weiteren Fragen nach dem Zweck einer so einsamen Behausung erübrigt. Falsche Namen. Falsche Angaben zur Person. Das Ganze war fast ausschließlich übers Internet gelaufen. Der einzige physische Kontakt hatte stattgefunden, als Linda im Maklerbüro erschien und die Miete für sechs Monate im Voraus und in bar bezahlte. Ein misstrauischer Mensch hätte sich vielleicht über das Bündel Hundert-Dollar-Noten gewundert, das sie herausgezogen hatte – doch in Zeiten der Wirtschaftskrise war Bares ein überzeugendes Argument.
Niemand hatte sie dabei beobachten können, wie sie ihre teure audiovisuelle Ausrüstung abluden. Als Michael das Studio vorbereitete, in dem Nummer 4 gefilmt wurde, war niemand in der Nähe gewesen, um über den Baulärm zu stutzen. Keine Nachbarn weit und breit, die ihre Nase in ihre Angelegenheiten steckten oder mit einer Kasserolle als freundschaftlichem Willkommensgruß auf der Matte standen. Keine Freunde. Keine Bekannten. Sie gehörten keiner Welt an außer Serie Nummer 4. Umgekehrt duldeten sie nicht, dass irgendein Teil der Welt da draußen in ihre Enklave eindrang. Für Linda machte das Gefühl, eine eigene Welt zu besitzen und zu kontrollieren, einen guten Teil ihres Vergnügens aus.
Sie hielt den Finger an das Licht, das durchs Fenster kam. Sie hoffte, dass es keine Narbe geben würde. Bei dem Gedanken, dass
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