Der Professor
die Schreie des Babys orten.
Sie kam sich wie ein Tier vor, das in der Luft schnuppert, um eine Gefahr mit der Witterung auszumachen. Sie befahl sich, von den Sinnen, die ihr geblieben waren, den besten Gebrauch zu machen. Auch wenn ihr nicht sofort bewusst war, welche Bedeutung diese kleine Aktivität für sie hatte, schien es sie doch zu stärken.
Die Schreie wurden lauter, doch dann hörten sie ebenso schnell von einer Sekunde zur anderen auf, als sei der Kummer, der sie ausgelöst hatte, wie auf Knopfdruck behoben worden. Reglos verharrte sie irgendwo zwischen Toilette und Bett. Sie drehte nur den Kopf in die Richtung, aus der die Schreie ihrem Gefühl nach gekommen waren, als sie plötzlich etwas Neues, ganz anderes hörte.
Es war Gelächter. Kindergelächter obendrein.
Sie versuchte, die Luft anzuhalten. Das fröhliche Treiben schien mal näher, mal weiter weg zu sein, als ob die Kinder herbeirennen und wieder weglaufen würden. Es erinnerte sie daran, wie sie einmal wegen irgendeines Verstoßes in der Grundschule nachsitzen musste, während die übrige Klasse auf den Schulhof durfte. Der Lärm der spielenden Kinder war durchs offene Fenster gesickert, das zu hoch für sie war, um hinauszusehen, doch die Geräusche drangen laut und deutlich herein, und sie konnte sich genau ausmalen, was die anderen gerade machten – Kickball. Fangen spielen. Seilspringen, an den Stangen des Klettergerüsts baumeln, all die vertrauten Spiele, bei denen die Pause im Nu verging.
Jennifer war sich nicht sicher, ob die Geräusche echt waren oder ob ihr die Erinnerungen einen Streich spielten. Sie war vollkommen verwirrt; sie
wusste,
dass sie sich in diesem anonymen Keller befand, doch jetzt fühlte sie sich plötzlich auch noch in irgendeiner Schule gefangen, die nur in ihrer Vergangenheit existierte.
Als sie sich zu den Geräuschen vorbeugte, von denen sie magisch angezogen wurde, verstummte das Lachen abrupt. Sie überlegte.
Habe ich das wirklich gehört?
Sie neigte wieder den Kopf – und fing erneut das ferne Lärmen spielender Kinder auf. Jetzt schien es lauter zu werden. Sie sagte sich:
Das kann nicht real sein,
doch je länger sie horchte, desto deutlicher schien es, und so wusste sie am Ende überhaupt nicht mehr, was sie von alledem halten sollte.
Die Laute schienen zum Greifen nahe zu sein. Sie waren verlockend, wie eine Einladung, einzustimmen. Zaghaft streckte sie die freie Hand aus. Irgendwie hoffte sie wohl, wenn sie nur ein einziges Kinderlachen in der Luft zu fassen bekäme, könnte sie irgendwie ein Teil des unbeschwerten Treibens werden. Es war ein Trugschluss zu meinen, die Geräusche könnten sie aus ihrem Verlies befreien, doch sie konnte nicht widerstehen, auch wenn sie wusste, dass sie ins Leere, in die sterile Kellerluft griff. Das Gelächter war einfach zu nah.
Wo sie mit Luft gerechnet hatte – stieß sie auf etwas Glattes wie Papier. Jennifer atmete heftig ein und zog die Hand zurück, als hätte sie einen Draht unter Strom angepackt.
Es ist jemand da!,
schoss es ihr durch den Kopf.
Sie hörte ein leises Zischeln und Flüstern. Es war wie ein Hitzegewitter an einem schwülen Sommertag und wie ein zynischer Kommentar zu den Baby- und Spielplatzgeräuschen. »Du bist nie allein.«
Plötzlich explodierte es in dem Schwarz, das sie vor Augen hatte, als die Frau ihr mit der Faust unters Kinn schlug. Jennifer fühlte nur noch rotglühenden Schmerz, der sie aufs Bett zurücktaumeln ließ, so dass ihr beinahe Mister Braunbär aus der Hand gefallen wäre. Der Hieb schockierte sie mehr als der erste des Mannes auf der Straße, weil das hier auf andere Weise gänzlich unerwartet kam. Und weil es menschenverachtend war. Und brutal.
Jennifer wusste nicht, ob sie schluchzen sollte oder nicht. Sie rollte sich in einer embryonalen Haltung auf dem Bett ein. Sie schmeckte das Salz ihrer Tränen und ein bisschen Blut, das ihr aus der Lippe tropfte. Der Raum fühlte sich glühend heiß an.
»Das ist das zweite Mal, dass du mich zwingst, dich zu schlagen, Nummer 4. Tu das nie wieder. Ich kann noch ganz anders.« Die Frau sprach nach wie vor in dem lauten, doch ausdruckslosen Tonfall, den Jennifer schon gewöhnt war. Sie verstand das nicht. Wäre die Frau verärgert oder irritiert, hätte ihre Stimme schrill oder angespannt klingen müssen, und sie verstand nicht, wieso die Frau so ruhig wirkte.
So klingt eine Mörderin,
dachte sie. Ihr ganzer Körper bebte vor Angst. Sie wartete beklommen, weil sie halb mit
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