Der Professor
war – strich sie mit den Fingerspitzen über die Kette an ihrem Hals.
Ein Glied. Zwei. Sie tastete jedes ab. Sie fühlten sich glatt an. Sie konnte sie sich vorstellen. Sie waren vermutlich silbern und glänzend, und sie hatten sie bestimmt in einer Tierhandlung gekauft. Die Glieder hatten nicht die Stärke und das Gewicht für einen Pitbull oder Dobermann. Aber sie waren wahrscheinlich stark genug, um sie festzuhalten. Sie griff sich hinter den Kopf und fand die Stelle, an der die Kette in einer Öse endete, die an der Wand befestigt war. Rigips, schätzte sie. Trockenbau.
Als sie sich einmal mit ihrer Mutter gestritten hatte – sie war länger als erlaubt draußen geblieben –, hatte sie einen Briefbeschwerer gegen die Wand geworfen. Es hatte einen dumpfen Aufschlag und ein großes Loch in der Wand gegeben, dann war er zu Boden gefallen. Ihre Mutter musste einen Handwerker rufen, um die Wand reparieren zu lassen. Rigips ist nicht stark. Vielleicht konnte sie die Öse herausreißen? Sie merkte, wie sie bei der Frage die Lippen bewegte, ohne dass ein Laut in ihrem Gefängnis widerhallte. Der Mann hatte das sicher bedacht.
Ich hab den Briefbeschwerer nicht wie ein Mädchen geworfen,
rief sich Jennifer ins Gedächtnis.
Mein Vater hat mir schon, als ich klein war, beigebracht, wie man einen Ball wirft. Er liebte Baseball. Er hat mir meine Red-Sox-Kappe geschenkt. Er hat mir beigebracht, wie es geht: den Arm am Ellbogen beugen und kräftig nach hinten ausholen. Nicht die Schulter bewegen. Dann mit aller Kraft werfen. Fastball. Ins Schwarze treffen. Den Gegner kaltstellen.
Sie lächelte, nur ein bisschen, weil sie nicht wollte, dass es von der Kamera eingefangen wurde.
Vielleicht kann ich ein kleiner Pitbull sein,
dachte sie. Jennifer strich sich mit den Fingern über das Lederhalsband.
Wahrscheinlich in derselben Tierhandlung gekauft.
Sie stellte sich die Unterhaltung vor.
»Und was für eine Rasse wollen Sie damit anketten, Ma’am?«
Sie sah die Frau an der Theke vor sich.
Ihr habt keine Ahnung,
dachte Jennifer
. Ihr wisst nicht, was für eine Art Hund ich sein kann. Wie ich beißen kann
.
Sie bohrte den Fingernagel in das Halsband und fing an, am Leder zu schaben. Es fühlte sich billig an. Sie ertastete ein kleines Schloss, so eins, mit dem man einen Koffer verschließt. Es sollte sie daran hindern, das Halsband zu öffnen. Sie kratzte ein bisschen fester, nur so viel, dass sie hinterher die Stelle wiederfinden konnte. Vielleicht, dachte sie, konnte sie so lange daran schaben, dass es zerriss.
Es
musste
einen Weg in die Freiheit geben. Zuerst musste sie von dieser Kette loskommen. Dann durch die Tür – war sie abgeschlossen? Sie musste es aus dem Kellerraum, in dem sie gefangen war, nach oben schaffen.
Wo ist die Treppe? Muss ganz in der Nähe sein.
War sie erst mal oben, galt es, eine Tür nach draußen zu finden. Dann musste sie rennen. In welche Richtung, war egal.
Nur weg.
Das war der leichte Teil.
Wenn ich erst mal so weit komme, dass ich wegrennen kann, hält mich keiner auf. Ich bin schnell. Auf jedem Spielfeld war ich die Schnellste. An der Highschool wollte der Trainer für Geländelauf, dass ich bei ihm mitmache, aber ich hab nein gesagt. Dabei hätte ich all die anderen Mädchen geschlagen, sogar die meisten Jungen. Ich muss nur die Chance bekommen.
Jennifer ließ die Hände von der Kette und dem Halsband sinken und fing an, ihren Teddy zu streicheln. Sie flüsterte Mister Braunbär zu: »Ein Schritt nach dem andern. Wir schaffen es, das verspreche ich dir.« Ihre Stimme hallte durch den Raum, und sie war erstaunt, dass sie laut gesprochen hatte. Einen Moment lang dachte Jennifer, sie hätte geschrien, doch dann schätzte sie, dass es nur ein Flüstern gewesen war. Beides schien möglich. Es hallte ihr in den Ohren nach, bis ein anderer Laut in ihr Bewusstsein drang.
Jemand war an der Tür. Sie zuckte zusammen und reckte den Kopf in die Richtung. Sie biss sich auf die Lippe. Sie hatte keinen Schlüssel im Schloss gehört. Sie hatte nicht gehört, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Sie versuchte sich zu erinnern, wie es bei den früheren Gelegenheiten gewesen war. Hatte sie da etwas gehört? Nein, es war nur das Geräusch des Türknaufs gewesen, der gedreht wurde. Was sagte ihr das?
Bevor sie auch nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit hatte, ihre eigene Frage zu beantworten, hörte sie die Stimme des Mannes.
»Steh auf, zieh deine Unterwäsche aus.«
Michael und Linda
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