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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Jugendfußballspiel den Ball köpfte.
    Sie ließ sich damit Zeit, alles zusammenzutragen; sie wollte nicht das geringste Detail vergessen. Sie schwelgte in ihren Erinnerungen – die Handlung und die Figuren eines Buchs, das sie als Kind gelesen hatte; die ersten Ohrringe, nachdem sie sich Ohrlöcher hatte stechen lassen. So malte sie sich im Kopf genüsslich ihre Vergangenheit aus. Es half ihr dabei, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass sie erst seit wenigen Tagen Nummer 4, aber viele Jahre lang Jennifer gewesen war. Es war ein ständiger Kampf.
    Die Augenbinde markierte, selbst wenn sie unter dem Rand hervor einmal einen kurzen Blick auf ihr Gefängnis werfen konnte, die Grenzen ihrer Existenz. Es kam vor, dass sie aufwachte und große Mühe hatte, sich
irgendetwas
aus ihrer Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen. Was sie fühlen, riechen und hören konnte – das, was sie sich von ihrer Gefängniszelle eingeprägt hatte und was, wie sie wusste, von der Kamera festgehalten wurde –, war
alles,
was ihr geblieben war. Dann hatte sie für eine Sekunde Angst, dass es weder gestern eine Jennifer gegeben hatte noch morgen eine geben würde, sondern nur die Jennifer in dieser Sekunde existierte.
    Sie wusste tief in ihrem Innern, dass sie sich auf einem Schlachtfeld befand, nur dass sie nicht wusste, wo der Gegner stand und welche Waffen er gegen sie führte. Es wäre leichter gewesen, als Schiffbrüchiger auf einem winterlichen Meer zu treiben. Wenigstens wäre dann klar gewesen, dass sie gegen die Strömung und gegen die Wellen ankämpfen musste und dass sie, falls sie sich nicht über Wasser halten konnte, ertrinken würde.
    Innerlich schluchzte sie. Äußerlich blieb sie ruhig.
    Sie dachte:
Ich bin erst sechzehn. Ich gehe noch auf die Highschool.
Sie wusste, dass sie nicht viel von der Welt kannte. Sie war nicht in ferne Länder gereist und hatte keine ausgefallenen Sehenswürdigkeiten besucht. Sie war keine Spionin oder Soldatin, geschweige denn eine Kriminelle – oder sonst irgendjemand, der auch nur über die geringste Erfahrung mit Gefängnissen verfügte. Eigentlich hätte sie die Erkenntnis lähmen müssen, doch seltsamerweise tat sie es nicht.
Ein paar Dinge weiß ich immerhin,
redete sie sich gut zu.
Zum Beispiel, wie man sich wehrt.
Wahrscheinlich machte sie sich etwas vor, doch das war ihr egal. Jedenfalls war sie entschlossen, das wenige, das sie wusste,
     zu nutzen, um sich selbst zu helfen.
    Wenn sie sich wehren wollte, dann fing es schon mal damit an, dass sie sich an das Leben erinnern musste, zu dem sie einmal gehört hatte. An das Gute und das Schlechte. Ihre Wut auf ihre Mutter, ihre Verachtung für den Mann, der es darauf abgesehen hatte, ihr Stiefvater zu werden – diese Dinge gaben ihrer Entschlusskraft Nahrung.
    Neben der Kommode steht eine Bodenlampe aus schwarzem Metall mit einem roten Schirm. Der Teppich ist ein mehrfarbiger Kelim, der eine fleckige, alte beigefarbene Auslegeware abdeckt. Der schlimmste Fleck stammt von einer Tomatensuppe, die ich aus der Küche mit hochgenommen habe, was ich eigentlich nicht durfte. Sie hat mich angeschrien. Hat gesagt, ich sei unverantwortlich. War ich auch. Aber ich hab mich trotzdem mit ihr gestritten. Wie oft haben wir uns gestritten? Einmal am Tag? Nein, öfter. Wenn ich heimkomme, wird sie mich in die Arme nehmen und mir sagen, wie sie geweint hat, als ich verschwunden bin, und das wird mir guttun. Ich vermisse sie. Sie hat jetzt schon ein bisschen graue Haare, nur ein paar Strähnen, die sie zu färben vergisst, und ich weiß nicht, ob ich es ihr sagen soll. Sie könnte schön sein. Sie sollte schön sein. Werde ich je hübsch sein? Vielleicht weint sie jetzt. Vielleicht ist Scott bei ihr. Ich hasse ihn. Immer noch. Mein Vater hätte mich längst gefunden, aber er kann es nicht. Sucht Scott überhaupt nach mir? Sucht irgendjemand nach mir? Mein Vater sucht nach mir, aber er ist tot. Das hasse ich. Er wurde mir weggenommen. Krebs. Ich wünschte, ich könnte dafür sorgen, dass der Mann und die Frau Krebs bekommen. Mister Braunbär weiß Bescheid. Ich würde ihn neben mir ins Bett legen. Er kann sich erinnern, wie das Zimmer aussieht. Wie kommen wir nur hier raus?
    Jennifer wusste, dass die Kamera alles einfing, was sie tat. Sie wusste, dass der Mann und die Frau – wer von beiden ihr mehr Angst machte, konnte sie nicht sagen – sie vielleicht beobachteten. Doch ganz still – als würde sie keine Aufmerksamkeit auf sich lenken, wenn sie still

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