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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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merkte, dass er keinen halben Meter zurückgetreten war. Er stand immer noch ganz dicht bei ihr. Sie wollte nicht, dass er ihr wieder wehtat. Also phantasierte sie weiter. »Er war groß und dünn. Und er hatte dieses übermütige Lachen, das ich an ihm mochte. Er liebte Actionfilme und war richtig gut in Englisch. Ich glaube, er hat Gedichte geschrieben, und im Winter trug er diese komische Mütze, mit diesen Ohrenschützern zum Runterklappen, mit denen er ein bisschen wie ein Elefant ohne Rüssel aussah …«
    Der Mann lachte kurz. »Gut«, sagte er. »Und was genau hast du dir vorgestellt, Nummer 4?«
    »Ich dachte, wenn er mit mir ausgeht, dann darf er mich nach dem ersten Date küssen.«
    »Ja. Und?«
    »Und wenn er mich dann noch mal einladen würde, dann dürfte er mich wieder küssen und vielleicht meine Brüste anfassen.«
    Sie hörte, wie der Mann näher herankam. Er sprach im Flüsterton, als sei sein Ärger verflogen und etwas anderem gewichen, was nur sie beide etwas anging.
    »Ja, erzähl mir mehr, Nummer 4. Was würde beim dritten Date passieren?«
    Jennifer starrte geradeaus. Sie wusste, dass sie in die Kamera blickte. Sie hegte den Verdacht, dass die Kamera auf ihre Brüste gerichtet war, als sie davon sprach.
Allerdings,
rief sie sich ins Gedächtnis,
nicht auf meine. Sondern die von Nummer
4
. Unter der Augenbinde blinzelte Jennifer, während sie versuchte, sich einen Jungen auszumalen, der nicht existierte.
    Niemand war je mit ihr ausgegangen. Und außer bei einer Flaschendreh-Party mit zwölf hatte bis jetzt auch niemand sie küssen wollen. Zumindest nicht, dass sie wüsste. Manchmal hatte sie das auf den Gedanken gebracht, sie sei nicht hübsch. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass vielleicht das Gegenteil der Fall war; dass sie zu hübsch und zu anders und zu rebellisch war und dass dies alles zusammen ihre Klassenkameraden dazu gebracht hatte, ihre Hoffnungen weniger hoch zu stecken.
    Sie erfand das Blaue vom Himmel herunter. Sie schöpfte aus Einschlafphantasien. Filmen. Büchern. Alles, was Romanzen bot, die man sich leicht merken konnte. »Und falls er wieder anrief und ich es einrichten konnte … einen Ort, an dem wir allein sein konnten und wo es ruhig war … dachte ich, wir würden …«, sie suchte nach Worten, »es miteinander tun.«
    »Ich höre, Nummer 4.«
    »Ich wollte, dass es in einem Zimmer passiert. Einem richtigen Schlafzimmer. Nicht auf einem Sofa oder im Auto oder in einem Keller. Und ich wollte, dass es langsam ist. Ich dachte, dass es wie ein Geschenk ist, das ich ihm gebe. Ich wollte, dass es etwas Besonderes ist. Und ich wollte nicht, dass er danach gleich wegläuft. Es sollte nicht beängstigend sein.«
    Der Mann kam noch näher heran. Sie merkte, dass er sich hin und her bewegte. Als seine Finger sie am Arm berührten, hätte sie fast geschrien. Vor Angst war sie vollkommen verkrampft.
    »Aber so wird es nun nicht kommen, nicht wahr, Nummer 4? Dieser Junge aus deiner Schule – der ist nicht hier. Und meinst du, er wird je erfahren, was für einen Leckerbissen er sich hat entgehen lassen?«
    Sie antwortete nicht. Sie merkte, wie er ihr mit den Fingerspitzen so eben über die Haut strich. Sie zeichneten ihren Körper nach, als lenkten sie die Aufmerksamkeit auf jede Partie. Sie strichen die Schultern entlang. Den Rücken hinunter, über ihren Hintern. Um ihre Taille herum, über ihren Bauch. Dann weiter hinunter. Sie schauderte. Bei jemandem, den sie liebte, wäre es, das wusste sie, erotisch gewesen. Bei dem Mann war es, als legte sich Dunkelheit über sie. Sie zitterte und musste den Wunsch herunterkämpfen, zurückzuzucken.
    »Willst du es hinter dich bringen, Nummer 4?«
    »Ich weiß nicht …«
    »Willst du es hinter dich bringen, Nummer
4

    Jennifer schwieg. Würde ein
Ja
ihn darin bestärken, sie auf der Stelle zu packen? Sie niederzuwerfen und sich auf sie zu stürzen? Wäre ein
Nein
eine Beleidigung? Es konnte genauso gut zum selben Ergebnis führen. Sie atmete tief ein und hielt die Luft an, als würde es ihr vielleicht dabei helfen, die richtige Antwort zu finden, wenn sie fast erstickte – falls es überhaupt eine richtige Antwort gab. Ihre Schultern zuckten.
Was wäre danach von ihr übrig?
    Hätte sie noch irgendeinen Wert?
    »Beantworte meine Frage, Nummer 4.«
    Sie holte Luft. »Nein«, sagte sie.
    Er flüsterte immer noch. »Du hast gesagt, du wolltest, dass es etwas Besonderes wird.«
    Sie nickte. Der Mann sprach weiter sehr leise,

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