Der Professor
er.
Wolfe warf einen Blick auf das Bild. »Hübsch, die Kleine …« Statt
hübsch
hätte er auch
reif
sagen können. Aus Wolfes Mund klang es obszön. Adrian glaubte, er müsste sich schütteln. »Eine Ausreißerin, sagen Sie?«
»Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, sie ist schon mal weggelaufen. Aber diesmal wurde sie entführt.«
Wolfe las sich die Einzelheiten auf dem Handzettel durch, indem er sie halblaut vor sich hin murmelte: eins einundsiebzig groß, dreiundfünfzig Kilo schwer, dunkelblondes Haar, keine besonderen Merkmale, zuletzt gesehen … Er las nicht weiter. »Wissen Sie, wenn bei meinem …«, er zögerte, »… Background irgendein Bulle diesen Zettel in meinem Besitz finden würde, wäre das genauso schlimm, wie …« Wieder brach er mitten im Satz ab.
»Wir haben einen Deal«, sagte Adrian. »Sie wollen, dass ich nicht zur Polizei gehe und denen was von Ihrem zweiten Laptop erzähle und was da drauf ist.«
Wolfe nickte. »Klar, schon verstanden. Das ist also die Kleine, von der Sie glauben, dass sie benutzt wird. Nach der soll ich das Internet absuchen.«
»Na ja, die andere Möglichkeit ist natürlich, dass sie …«
»Klar. Dass sie gevögelt und getötet worden ist. Oder schlimmer.«
Wolfes Gesicht zuckte ein wenig. Adrian konnte nicht sagen, ob die unwillkürliche Bewegung von Abscheu oder freudiger Erregung zeugte. Beides schien möglich zu sein. Vielleicht lagen beide Reaktionen bei Mark Wolfe auch ganz dicht beieinander. Adrian hielt das für wahrscheinlich.
»Also, all dieser Mist von wegen Snuff-Filmen. Sie wissen schon, dass das alles reine Stadtlegenden sind? Reine Fiktion, Erfindung. Quatsch. Nichts dran.«
Je mehr Wörter er aneinanderreihte, um seine Aussage zu bekräftigen, desto stärker erweckte er den gegenteiligen Eindruck.
Versuch die Worte zu durchschauen, die er benutzt, die Art, wie er dasteht, seinen Ton, seine Bewegungen.
Das hätte Cassie wohl zu ihm gesagt, und es kam ihm so vor, als hätten seine Überlegungen den melodischen Klang ihrer Stimme.
Adrian starrte den Triebtäter an und blickte von ihm in den wolkenlos blauen Himmel, der schönes, warmes Wetter versprach. Über ihm zog ein Düsenflugzeug einen langen, geraden, watteweichen Streifen – Menschen, die mit hoher Geschwindigkeit zu ihren verschiedenen Reisezielen eilten. Ihm wurde bewusst, dass er nie wieder fliegen, nie wieder an einen anderen, exotischen Ort reisen würde. Er war wie gebannt vom geraden Kurs, den die Maschine dort oben so mühelos flog, während er selbst in Krankheit und Zweifel wie in einem Sumpf feststeckte. Wenn er nur gewusst hätte, welche Schritte er unternehmen sollte und wie viele Meilen ihm auf seiner Reise noch blieben.
»Audie, pass auf!«,
hörte er seinen Bruder in scharfem Ton, und Adrian senkte den Blick.
»Komm schon, Audie, konzentrier dich!«
Er hatte das Gefühl, als ob ihn Brian in den Rücken stieße.
»Alles, klar, Professor?«
»Ja, ja, mir fehlt nichts.«
»Also, das Knifflige ist, rauszukriegen, was real ist und was nicht. Das ist das Problem mit dem Internet. Da liegen Lügen und Phantasie und Vorspiegelungen dicht neben richtig guten, soliden Informationen. Nicht leicht, beides voneinander zu unterscheiden. Selbst in der Sex-Welt, wissen Sie. Was ist real? Was nicht?«
»Snuff-Filme …«
»Wie gesagt, fauler Zauber. Aber …«
Wolfe legte eine Pause ein, in der er seine Worte einzeln abzuwägen schien, bevor er hinzufügte: »… aber all diese Mythen, na ja, die schaffen Gelegenheiten, wenn Sie wissen, was ich meine, Professor.«
»Erklären Sie’s mir.«
»Na schön. Snuff-Filme existieren nicht, aber kaum sagt das FBI oder Interpol: ›Snuff-Filme sind ein moderner Mythos‹, ist das nicht etwa das letzte Wort zu diesem Phänomen, sondern es kann auch den einen oder anderen erst auf Ideen bringen, Professor. So ist das eben mit dem Internet. Es existiert, um aus nichts etwas zu machen. Sie sagen, etwas ist nicht wahr, und jemand anders, vielleicht am anderen Ende der Welt, fühlt sich bemüßigt zu beweisen, dass Sie sich vielleicht irren. Mord-Pornos zum Beispiel gibt es zwar eigentlich nicht, aber … Sie nehmen am Morgen die Zeitung zur Hand – und was lesen Sie da? Vielleicht haben irgendwo in Osteuropa ein paar Jugendliche sich dabei gefilmt, wie sie jemanden zu Tode prügeln. Nur so zum Spaß. Oder irgendwelche Typen in Kalifornien haben das Handy draufgehalten, als sie eine Anhalterin töten, nachdem sie das
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