Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
als bebte die Erde und die Decke drohte einzustürzen. Sie wurde nur am Rande gewahr, wie sie die Beine über den Bettrand schwang und an der nächstgelegenen Wand stand. Sie drückte das Ohr daran – doch die Geräusche schienen eher ferner. Sie trat in unterschiedliche Richtungen, um die Laute irgendwie einzukreisen, doch wie jedes andere Blindekuhspiel, das sie seit ihrer Gefangenschaft in diesem Raum gespielt hatte, blieben sie außer ihrer Reichweite.
    Jennifer ging im Kopf noch einmal alles durch.
Ein Baby schreit. Kinder spielen auf einem Schulhof oder Spielplatz. Ein heftiger Streit bricht aus.
Das alles musste irgendeinen Sinn ergeben. Das alles musste ihr irgendeinen Hinweis darauf vermitteln, wo sie sich befand und was ihr vielleicht als Nächstes passierte. Alles setzte sich zu einer Antwort zusammen. Sie stolperte durch den Raum, bis sie ans Ende der Kette kam, und versuchte mit ausgestreckten Händen etwas vor sich zu finden, das sie berühren konnte und das ihr half, ihre Situation zu verstehen.
    Nur mit äußerster Mühe konnte sie dem Drang widerstehen, die Binde ein wenig anzuheben und sich umzusehen, als müsse sie das, was sie sehen konnte, auch leichter verstehen. Doch sie hatte zu viel Angst. Bis jetzt hatte sie sich jedes Mal nur einen ganz kurzen, verstohlenen Blick erlaubt, so dass sie die auf sie gerichtete Kamera bemerkte, die jeden Atemzug von ihr festhielt, ihre ordentlich auf einem Tisch gefalteten Kleider, die Maße ihrer Zelle. Bis jetzt hatte sie sich bemüht, das, was sie machte, zu verbergen, damit der Mann und die Frau es nicht merkten und sie nicht dafür bestraften. Doch der Streit hatte etwas zutiefst Beunruhigendes, Beängstigendes – gerade klang es wieder so, als ob etwas zerbrechen würde –
ein Stuhl? Ein Tisch? Hat jemand mit Geschirr geworfen
?
    Sie drehte sich im Kreise. All die Auseinandersetzungen zwischen ihr und ihrer Mutter standen ihr plötzlich lebendig vor Augen. Sie versuchte zu bestimmen, was diese Streitereien zu bedeuten hatten, und ihr fiel nur eine Lehre ein:
Nach einem Streit sind Menschen gemein. Sie wollen verletzen. Sie wollen bestrafen.
Sie schauderte bei dem Gedanken, dass derjenige, der als Nächstes durch die Tür in ihr Verlies kam, voll aufgestauter Wut wäre, die sich dann an ihr entlud. Kaum hatte sich dieser Gedanke eingenistet, kehrte sie zu dem Bett zurück, als sei es der einzige sichere Hort.
    Sie machte sich klein. Eine Woge der Ungewissheit spülte über sie hinweg. Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihr Atem kam kurz und keuchend, als könne der Streit nur sie betreffen. Am liebsten hätte sie geschrien:
Ich hab nichts getan! Ich kann nichts dafür! Ich hab alles gemacht, was ihr wolltet!
Auch wenn diese Beteuerungen nicht ganz der Wahrheit entsprachen. Sie steckte in der Dunkelheit, die ihre Augenbinde schuf, konnte sich aber nicht verbergen. Sie wich noch weiter zurück und horchte beklommen auf das nächste Geräusch, auf Geräusche von der Tür, weitere Ausbrüche oder etwas, das zerbrach.
    Und dann hörte sie den Schuss.
    Die Zweitsemesterstudenten an der University of Georgia hatten es sich in ihrem Zimmer im Haus der Tau-Epsilon-Phi-Verbindung bequem gemacht, als das unverkennbare Geräusch eines Schusses aus den Lautsprechern krachte. Einer der Studenten lag auf einem Metallbett unter einem Werbeplakat der Army, das den Betrachter drängte:
Hol aus dir raus, was in dir steckt
. Er blätterte in einer Zeitschrift mit dem Titel
Sweet and Young,
während sein Zimmergenosse an einem verkratzten, ramponierten Eichentisch vor einem Apple-Laptop saß. »Gott!«, sagte der erste Student und fuhr in die Höhe. »Ist jemand erschossen worden?«
    »Klang echt so.«
    »Mit Nummer 4 alles klar?«, erkundigte sich der andere.
    »Ich guck gerade«, antwortete sein Kommilitone. »Sieht so aus.«
    Der erste Student war schlaksig, mit langen Beinen. Er trug eine gebügelte Jeans und ein T-Shirt, das für Frühlingsferien in Cancún warb. Mit wenigen Schritten hatte er den Raum durchquert. »Aber sie hat Angst?«
    »Klar. Wie immer. Aber vielleicht mehr als sonst.«
    Beide große Jungen beugten sich vor, als könnten sie so in den kleinen Raum eindringen, in dem Nummer 4 an die Wand gekettet war.
    »Was ist mit dem Mann und der Frau? Haben die sich mal blicken lassen?«
    »Bis jetzt nicht. Meinst du, einer hat den anderen erschossen? Erinnerst du dich an die riesige Scheißknarre, mit der sie Nummer 4 schon mal vor dem Gesicht

Weitere Kostenlose Bücher