Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
Einzelheiten irgendeine Richtung weisen würden. Während die Kinder draußen mit Freunden spielten, der Lärm, den sie machten, sich in Grenzen hielt und, wie sie dankbar registrierte, bis jetzt noch kein tränenreicher Streit ausgebrochen war, brütete sie über dem Ordner auf ihrem Schoß.
    Ihre eigene Frustration hatte sich verdoppelt. Die Kriminaltechniker der Staatspolizei hatten das Überwachungsvideo so weit aufarbeiten können, dass man die Gesichtszüge ein bisschen besser erkennen konnte – aber eben nur ein bisschen. Hätte sie den Namen des Mannes gewusst, würde es vor Gericht vielleicht eine Hilfe sein können, denn es würde ihr ermöglichen, ein paar harte Fragen zu stellen, wenn ihr der Mann gegenübersaß. Doch die Aufnahmen halfen ihr nicht dabei, den Mann zu identifizieren und festzustellen, was er am Busbahnhof gemacht hatte und ob er zu Jennifer in irgendeiner Beziehung stand. Hätte sie über hochentwickelte Software aus der Terrorbekämpfung und eine Phalanx an Computern verfügt, hätte die Sache vielleicht anders ausgesehen. Hätte, wäre, wenn.
    Sie befand sich in einem klassischen Ermittlerdilemma: Hätte sie einen Verdächtigen gehabt, mit einem Namen und einer Verbindung zu einem ähnlichen Verbrechen, wäre es zwar durchaus knifflig gewesen, eine Beweiskette aufzubauen und bis zu ihm zurückzuverfolgen, aber zumindest nicht auszuschließen. Wenn man aber auf ein verschwommenes, kaum fokussiertes Standbild angewiesen war, das einfach aus einem Video gerissen wurde, und man keine Ahnung hatte, wer der Mann am anderen Ende des Bundesstaates war, weshalb er sich dort aufhielt …
    Terri wandte den Blick ab und legte das Foto zurück. Unmöglich, dachte sie. Aus dem Garten hörte sie das Klirren von Töpfen und Pfannen, Geräusche, die nur Eltern von kleinen Kindern einordnen können. Küchenutensilien, die zum Graben oder Musizieren verwendet werden. Die Erde war um diese Jahreszeit noch feucht, und sie rechnete damit, dass die Kinder, wenn sie hereinkamen, die halbe Krume hereintragen würden.
    Sie starrte auf ihre Akte. Sackgassen und unwahrscheinliche Verbindungen. Es gab wenig Anhaltspunkte, und die ergaben noch weniger Sinn. Sie schüttelte den Kopf und wünschte sich, sie hätte die Unbeirrbarkeit des Professors.
Er könnte recht haben,
dachte Terri,
aber es ist trotzdem unmöglich
. Serienmörder im England der sechziger Jahre. Ein Paar in einem Transporter auf einer Vorstadtstraße. Ein Albtraum. Eine spurlos Verschwundene.
    Sie rechnete halb damit, dass ihre berufliche Laufbahn ebenso am Ende war wie Jennifer Riggins’ Leben – und schämte sich für diesen Vergleich zwischen ihren Bezügen und dem Leben einer Sechzehnjährigen, doch der Gedanke hatte sich ihr aufgedrängt.
Durchaus möglich, dass der Professor mit allem richtigliegt,
sagte sie sich.
Aber das heißt noch lange nicht, dass ich irgendetwas tun kann.
    Eine Sekunde lang war sie wütend. Sie wünschte sich, nie von Jennifer Riggins gehört zu haben. Sie wünschte sich, nicht diejenige gewesen zu sein, die mit den ersten Ausreißversuchen des Teenagers befasst gewesen war, dann wäre ihr Name in den Dienstakten nie mit dem misslichen Geschick des jungen Mädchens in Verbindung gebracht worden. Sie wünschte sich, sie hätte nie den Anruf der Einsatzzentrale entgegengenommen, der sie zum Ort von Jennifers letztem Fluchtversuch gebracht hatte. Sie wünschte sich, nichts mit der Familie zu tun zu haben, der all die schrecklichen Ungewissheiten bevorstanden, die diese moderne Welt zuweilen bereithält.
    Alle Welt redet heute von Schlussstrich ziehen und Trauerarbeit,
dachte sie,
als könnte man damit das Unrecht ungeschehen machen
. Wir erfahren, was mit unserem Kind passiert ist, wir verstehen eine Krankheit, wir begreifen, dass der fahnenbedeckte Sarg aus dem Irak oder aus Afghanistan zurückkehrt. Irgendjemand behauptet, damit könnten wir es
verarbeiten
und
unseren Frieden machen
 – wie eine Monopoly-Karte, die uns aus dem Gefängnis befreit –, aber so ist es nicht. Nichts ist so griffig und so simpel.
    Sie hörte plötzlich erhobene Stimmen, das erste Weinen von draußen, doch ebenso schnell verstummte es wieder. Sie ertappte sich dabei, an ihren Ex-Mann zu denken. Vermutlich war er wieder zwischen zwei Einsätzen. Sie rechnete mit seinem Anruf. Er pochte vielleicht auf sein Besuchsrecht, auf einen seiner seltenen Begutachtungsbesuche, die sie ihren Kindern mit aller Macht ersparen wollte.
    Terri ballte

Weitere Kostenlose Bücher