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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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geworfen hatte.
    Jetzt sahen sie, wie Nummer 4 die Waffe vom Boden ihrer Zelle aufhob. Das übergewichtige Mädchen machte es ihr nach und packte die Zweiunddreißiger am Griff. Sie waren sich nicht im Klaren, ob sie nun wollten, dass sich Nummer 4 erschoss, oder nicht. Sie wussten nur, dass sie ihrem Beispiel folgen würden. Was sie tat, bestimmte über ihr eigenes Schicksal. Dieser Entschluss verdrängte jeden Gedanken daran, ob das, was sie vorhatten, richtig oder falsch, klug oder dumm war. Das bebrillte Mädchen nahm die Hand ihrer Freundin und drückte sie zum Trost. Einen Moment fragte sie sich, wieso ihre Freundschaft nicht reichte, um trotz aller Hänselei und schamlosen Grausamkeit die Highschool durchzustehen. Sie fand auf diese Frage keine Antwort. Sie wusste nur, dass sie in den nächsten Minuten genügend andere Antworten bekommen würde.
    Jennifer nahm den Revolver in die Hand und war erstaunt über sein beträchtliches Gewicht. Sie hatte noch nie eine tödliche Waffe gehalten und hätte irgendwie angenommen, dass etwas so Mörderisches federleicht sein müsse. Sie hatte keinen Schimmer, wie man damit umging, wie man die Trommel ausschwenkte, wie man sie lud oder den Hahn mit dem Daumen zurückzog. Sie wusste nicht, ob die Waffe gesichert war oder ob im Lager nur eine oder alle sechs Patronen steckten. Sie hatte genug ferngesehen, um zu wissen, dass sie vermutlich nichts weiter zu tun hatte, als sich den Lauf an die Schläfe zu setzen und so lange den Abzug zu betätigen, bis es sich erübrigte.
    Eine Stimme in ihr schrie:
Bring’s hinter dich! Tu’s schon! Mach dem Ganzen ein Ende!
Angesichts ihrer eigenen bitteren Gefühle schnappte sie nach Luft.
    Ihre Hand zitterte ein wenig, und sie glaubte, dass sie es schnell machen sollte, denn was der Mann und die Frau mit ihr anstellen würden, wenn sie zu lange zögerte, war nicht auszudenken. Irgendwie schien es logisch, sich umzubringen, damit sie ihr nicht wehtun konnten. Andererseits musste sie jede Bewegung erst einmal genau durchgehen:
Nimm die Waffe in die Hand. Heb sie langsam hoch. Stopp!
Als müssten die letzten Minuten des Lebens in Zeitlupe vergehen.
    Sie fühlte sich vollkommen allein, obwohl sie wusste, dass sie es nicht war. Sie wusste, dass der Mann und die Frau in der Nähe waren.
    Sie konnte nicht klar denken. Sie merkte, wie sie all das, was ihr passiert war, seit sie auf der Straße gekidnappt wurde, noch einmal im Kopf abspulte – wie sie wieder geschlagen, wieder vergewaltigt, wieder verspottet wurde. Zugleich stiegen Bildfetzen aus der Vergangenheit auf. Das Problem war nur, dass alle diese Erinnerungen, die guten wie die schlechten, die fröhlichen und die traurigen, immer tiefer in einen Tunnel verschwanden und kaum noch greifbar waren.
    Es kam ihr vor, als hätte Jennifer endgültig den Raum verlassen und nur Nummer 4 sei noch da. Und Nummer 4 blieb eine einzige Möglichkeit.
Der Schlüssel, um nach Hause zu gehen.
So nannte es die Frau. Sich umzubringen war folgerichtig. Ihr fiel keine andere Lösung ein.
    Und trotzdem zögerte sie immer noch. Sie wusste nicht, woher diese Mischung aus Widerstandskraft und Trotz kam, doch es war eine Anwandlung, die sich ebenfalls Gehör verschaffte, mal wütend laut, mal ängstlich leise, und sich dagegen aufbäumte, Nummer 4 hier und jetzt ein Ende zu bereiten. Sie konnte einfach nicht mehr sagen, was von beidem mutiger war, sich zu erschießen oder nicht. So verharrte sie, weil nach wie vor alles unklar schien.
    Dann tat Jennifer etwas Überraschendes, das sie niemandem hätte erklären können. Sie wusste nur, dass ihr eine unabweisbare Stimme befahl, es unbedingt und unverzüglich zu tun.
    Behutsam legte sie die Waffe auf ihren Schoß und hob die Hände, um sich die Haube vom Kopf zu nehmen. Auch wenn sie es nicht wusste, erinnerte die Geste an ein bekanntes melodramatisches Hollywood-Motiv, bei dem der tapfere Spion sich dem Exekutionskommando gegenübersieht und es ablehnt, eine Augenbinde zu tragen, damit er dem Tod ins Auge blicken kann.
    Die Haube war festgebunden, und so musste sie sich anstrengen, die Knoten zu lösen. Der eigensinnige Gedanke, nicht übergangslos von einer Art Dunkelheit in eine andere zu wechseln, irrlichterte ihr durch den Kopf. Es war mühsam, da ihr die Hände heftig zitterten.
     
    Linda merkte als Erste, was Nummer 4 auf einmal trieb. Sie beide saßen mit derselben Faszination, die vermutlich alle ihre Kunden in diesem Moment erfasste, vor den Monitoren und

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