Der Professor
und kroch auf dem weichen Boden zu dem Haus, in dem er mit absoluter Sicherheit die vermisste Jennifer finden würde.
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Die beiden Mädchen saßen Seite an Seite auf der Kante eines Einzelbetts in einem Zimmer mit einer bemerkenswerten Ansammlung von rosa Stofftieren und kleinen Teegedecken und starrten auf den Computerbildschirm. Sie waren höchstens ein paar Monate, vielleicht nur ein paar Wochen jünger als Nummer 4.
Auf dem Schreibtisch vor ihnen lag ein vernickelter Revolver Kaliber 32 mit kurzem Lauf. Im glänzenden Metall spiegelten sich die Bilder auf dem Bildschirm. Die Waffe war geladen und entsichert. Sie beschwerte einen Stoß Papiere – im Wesentlichen Ausdrucke und Scans von E-Mails, SMS -Nachrichten und MySpace-Seiten. Dazwischen befanden sich auch ein paar handschriftliche Notizen auf liniertem Schulheftpapier, das mehrfach klein gefaltet und anschließend zum Lesen wieder ausgebreitet worden war.
Eins der Mädchen hatte ein wenig Übergewicht. Das andere trug eine dicke Brille. Keines dieser Merkmale wäre von irgendeinem Belang gewesen, hätten sie nicht für diese beiden Mädchen alles oder nichts bedeutet.
Die Papiere unter der Waffe enthielten einen detaillierten Bericht über ein halbes Jahr intensives Internet-Mobbing. »Schlampe« und »Hure« gehörten noch zu den harmlosesten Beschimpfungen, die sie zu lesen bekamen. Weitaus schlimmer waren die entsetzlich peinlichen, digital zusammengefügten Fotos, die jedes der Mädchen bei diversen sexuellen Aktivitäten mit einer Reihe anonymer Jungen zeigten. Der Umstand, dass darauf Ereignisse dargestellt wurden, die nicht wirklich stattgefunden hatten, zählte nicht. Wer immer für die Collagen verantwortlich war, hatte beträchtliches Können an den Tag gelegt, so dass der Betrachter dieser Bilder schon genau hinsehen musste, um die Fälschung zu erkennen. Keiner ihrer Klassenkameraden an der Highschool hatte sich diese Mühe gemacht, da die Fotos bald per E-Mail und Handy die Runde machten. Sie wussten inzwischen, dass die Bilder erfunden waren – und es war ihnen egal.
Die beiden Mädchen schwiegen. Sie blickten wie gebannt auf den Bildschirm.
Die Waffe gehörte eigentlich der Mutter des übergewichtigen Mädchens. Sie war geschieden und machte als Chefsekretärin häufig Überstunden, so dass sie nicht selten im Dunkeln den großen Firmenparkplatz allein überqueren musste, ein Sicherheitsrisiko, das zur Anschaffung einer Waffe führte. Zuerst hatte die Mutter versucht, die Tochter mit in den Selbstverteidigungskurs zu nehmen, den sie angefangen, aber abgebrochen hatte. In diesem Moment saß die Mutter an ihrem Schreibtisch, wimmelte Anrufe ab und bereitete eine Reiseroute für die nächste Verkaufsoffensive ihres Chefs vor. Irrtümlicherweise glaubte sie, die Handfeuerwaffe befinde sich in ihrem Billigimitat einer Fendi-Handtasche und ihre Tochter im Mathematikunterricht.
Das Mädchen mit der Brille riss sich widerstrebend vom Bildschirm los. Sie blickte auf das blassgelbe Briefpapier mit dem aufwendigen Blumenranddekor, das sie in der Hand hielt. Es war ein gemeinsam verfasster Abschiedsbrief. Sie wollten sicherstellen, dass alle wussten, wer sie so erbarmungslos verhöhnt hatte. Entsprechend hatten sie eine möglichst umfassende Liste der Schuldigen zusammengestellt und trösteten sich mit der Vorstellung, dass die Leute, die sie in den Selbstmord getrieben hatten, für den Rest ihres Lebens hinter Schloss und Riegel kamen. Sie hatten keine Ahnung, wie unwahrscheinlich ein solcher Ausgang war, doch es hatte ihnen dabei geholfen, ihren Pakt zu schließen.
Was in ihrem Brief unerwähnt blieb, war die Faszination, die für sie beide von Whatcomesnext.com ausging. Niemand wusste von den vielen Stunden, die sie sich mit Nummer 4 beschäftigt hatten. Sie beschrieben nicht, wie sie das Mädchen angefleht, umschmeichelt hatten, um anschließend mit ihr zu schluchzen, wenn ihr schreckliche Dinge passiert waren.
Nummer 4 war mit ihnen verschmolzen. Als nun zwischen ihnen bei spätabendlichen, tränenreichen Handygesprächen ihre Pläne nach und nach Gestalt annahmen, hatten sie sich auf einen wichtigen Punkt geeinigt: Starb Nummer 4, dann starben auch sie.
Ihnen war klar, dass sie es besser hatten als Nummer 4. Sie standen sich gegenseitig bei, während Nummer 4 nur ihren Stoffbären hatte, und jetzt war ihr selbst der noch genommen worden, auch wenn sie beide – im Unterschied zu ihr – sehen konnten, wo die Frau ihn auf den Boden
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