Der Professor
Teilen der Welt gesendet, dass sie auf diese Weise allen Zuschauern früher oder später packende Bilder in Echtzeit boten und alle auf ihre Kosten kamen. Allerdings hieß dies auch, dass Linda und er abwechselnd Wache schieben mussten, während der andere ein paar Stunden schlief. Ihre eigene Passion für das Projekt verdankten sie zu einem guten Teil dem Austausch über ihre Beobachtungen und ihrer eigenen Stimulation durch das, was sie gestalteten. Doch oft genug ergaben sich diese Momente, wenn gerade nur einer von ihnen zusah, was eher frustrierend war.
Bei ihren ersten beiden Versuchen auf Whatcomesnext.com hatte ihnen das noch gewaltige Probleme gemacht. Sie waren ständig erschöpft – und hatten am Ende kaum noch die Energie, die Show abzuschließen.
Nach ausgiebigen Diskussionen hatten Michael und Linda das Problem nunmehr elektronisch gelöst. Sie nahmen einige Handlungs- und einige Schlafphasen auf und stellten auf diese Weise kleinere Shows innerhalb der Show ein, so dass sich der Handlungsverlauf von Serie Nummer 4 ständig erneuerte und zurückgespult oder wieder abgespielt werden konnte. Er war inzwischen ein Experte in Final Cut sowie anderen Editierprogrammen und hatte gelernt, verschiedene Sequenzen zusammenzuschneiden, so dass er, wenn es einmal Durchhänger gab, etwas Packendes senden konnte.
Michael hatte sich eingehend mit moderner Pornographie befasst und erkannt, dass sich die Zuschauer dasselbe Video, auf dem dieselben Schauspieler kopulierten, immer und immer wieder ansahen – als ob jeder Stöhner und jeder Stoß etwas vollkommen Neues wäre. Doch Michael war klug genug zu begreifen, dass Pornographie, egal, wie direkt sie war, am Ende einen schalen Beigeschmack bekam. Weil sie zu berechenbar war. Er kannte Pornos inzwischen so gut, dass er die Abläufe genau vorhersagen konnte – soundso viele Minuten für jeden Abschnitt eines jeden Geschlechtsakts, genau in der vorgeschriebenen Abfolge, in militärischem Drill, bis zum Höhepunkt mit geöffnetem Mund. Michael hatte beschlossen, aus diesen Schablonen auszubrechen.
Das Schöne an Whatcomesnext.com war die Kunst des Unberechenbaren. Niemand konnte je im Voraus wissen, was die Kamera einfangen würde. Niemand sollte den nächsten Schachzug vorhersagen können. Weder die tatsächliche Dauer der Serie noch das spezielle Thema ahnten sie. Ein fast nackter Teenager, der in einem anonymen Raum an eine Wand gekettet war, bot eine Folie für unendlich viele Möglichkeiten.
Darauf war er richtig stolz. Und auf Linda. Sie hatte darauf bestanden, für Serie Nummer 4 »jemand Junges und Unverbrauchtes zu finden«. Sie hatte argumentiert, das erhöhte Risiko, das damit verbunden war, werde durch die Mundpropaganda im Internet und den erweiterten Kreis zahlender Kunden reichlich wettgemacht. Sie hatte sich nicht beirren lassen und sich auf ihr Betriebswirtschaftsstudium und ihre praktische Unternehmenserfahrung berufen.
Michael räumte ein, dass Linda darin – wie in so vielen anderen Dingen – richtiggelegen hatte. Nummer 4 würde zum interessantesten Drama, das sie bis jetzt vorgelegt hatten.
Hinter ihm regte sich Linda. Sie lächelte im Schlaf. Er lächelte zurück und hatte Lust, ihr Bein zu streicheln. Er streckte die Hand danach aus, zog sie aber wieder zurück. Sie brauchte ihre Ruhe, und er sollte sie nicht stören.
Er drehte sich wieder zum Computer um. Eine E-Mail kam von jemandem mit dem Web-Namen Magicman88 und dem Vorschlag »Nummer 4 sollte Gymnastik machen, damit wir ihre Figur besser sehen können«.
Michael schrieb zurück: »Ja. Alles zu seiner Zeit.«
Er gab den Subscribern gerne das Gefühl, dass sie die Situation mitgestalteten, und er notierte sich in seinem Drehbuch, Nummer 4 ein paar Liegestütze und Sit-ups machen und sie vielleicht auf der Stelle laufen zu lassen. Er setzte sich auf seinen Schreibtischsessel und überlegte.
Was wird sie denken, wenn ich sie auffordere, Gymnastik zu machen?
Er fragte sich, ob das Lamm, das extra viel zu fressen bekommt, merkt, dass es zum Schlachten gemästet wird. »Nein«, flüsterte Michael. »Sie wird glauben, dass es mit irgendetwas anderem zu tun hat. Sie wird nicht das ganze Theater durchschauen.«
Linda drehte sich im Bett auf die andere Seite. Er stellte sich gerne vor, dass sie auf sein Flüstern reagierte.
Auf dem Videomonitor sah er, wie Nummer 4 die Hand ans Gesicht hob und mit den Fingern die Binde an ihren Augen berührte. Doch ihre Bewegungen wirkten
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