Der Professor
unwillkürlich, und er vermutete, dass sie schlief. Dies machte, davon war er überzeugt, zu einem guten Teil seine Genialität aus, denn er war in der Lage, die psychologische Wirkung dessen, was auf dem Videobildschirm passierte, vorherzusagen. Dabei zog er nicht nur die Wirkung auf Nummer 4 in Betracht, sondern auch die auf die Zuschauergemeinde. Er wollte, dass sie sich sowohl mit ihr identifizierten als auch den Wunsch hatten, sie zu beherrschen. Kontrolle war alles.
Wieder sah er zuerst auf den Monitor, bevor sein Blick auf Linda ruhte. Als sie die ersten Ideen entwickelten, die schließlich zu Serie Nummer 1 führten, hatte er sich in die Welt der Gefangenschaft gestürzt. Es gab kaum einen Aufsatz über das Stockholm-Syndrom, den er nicht las. Er hatte die Memoiren von Kriegsgefangenen verschlungen und sich freigegebene Abhandlungen der US -Streitkräfte besorgt, die sich mit dem Leben im Hanoi Hilton befassten. Er hatte sogar einige der Anweisungen zur Vernehmung und Risikobewertung für hochrangige Zielpersonen in die Finger bekommen, welche die CIA ihren psychologischen Einsatzkommandos an die Hand gab. Er hatte die Berichte von Gefängniswärtern wie auch die Biographien der Männer gelesen, über die sie wachten. Er kannte die Wahrheit über den Vogelmann in
Der Gefangene von Alcatraz
und hätte jedem Professor der Filmgeschichte sagen können, wie genau Burt Lancaster in seiner berühmten Darstellung von der Wirklichkeit abgewichen war.
Er schätzte, dass er ebenso viel über Gefangenschaft wusste wie jeder Fachmann. Angesichts dieser profunden Kenntnisse musste er schmunzeln. Der Unterschied zwischen ihm und einem Profi bestand darin, dass der Profi nach Informationen suchte oder Schmerz zufügen wollte oder einfach nur die Zeit totschlug. Linda und er dagegen schufen Kunst. Sie waren einmalig.
Sie wechselte wieder die Stellung. Er stand leise auf und begab sich ins Bad. Eine Dusche würde ihn erfrischen, sagte er sich. Er musste wach sein, wenn der nächste dramatische Moment mit Nummer 4 kam.
Über dem Waschbecken befand sich ein kleiner Spiegel, und er nahm sich einen Moment Zeit, um sich darin anzustarren. Er spannte seine drahtigen Muskeln und fand sich asketisch dünn, wie ein Mönch oder auch wie ein wahrlich besessener Langstreckenläufer. Er strich sich die Strähnen aus dem Gesicht und fuhr sich über den Stoppelbart. Er hatte lange Finger, Pianistenfinger, hatte er früher einmal gedacht. Jetzt spielten sie virtuos auf einer Computertastatur. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht. Er sah ein bisschen blass aus. Er und Linda waren zu große Stubenhocker, sie sollten ein bisschen mehr an die frische Luft. Vielleicht sollten sie, wenn Serie Nummer 4 zu Ende war, in den Süden und sich ein bisschen Urlaub gönnen. Vielleicht irgendwo in den Tropen, wo es heiß und schwül war, zum Beispiel Costa Rica oder was Exotisches wie Tahiti.
Das Geld würde für jede Fünf-Sterne-Extravaganz reichen, nach der ihnen der Sinn stand. Serie Nummer 4 war schon jetzt erfolgreicher als alles davor. Immer noch loggten sich neue Subscriber mit neuen Kreditkartennummern ein und machten eine Menge Kohle locker. Er sollte, fiel ihm ein, ein Update einrichten, um die neuen Zuschauer auf denselben Stand der Dinge zu bringen wie diejenigen, die von Anfang an dabei waren.
Michael beschloss, sich zu rasieren, und drehte das heiße Wasser voll auf, so dass der Spiegel sofort beschlug. Er seifte sich das Gesicht mit Rasiercreme ein, blieb, den Rasierer in der Hand, stehen und machte eine Szene aus einem anderen berühmten Film nach: »It’s Show Time!«, flüsterte er beschwingt.
Wie zuvor war sich Jennifer nicht sicher, ob sie noch träumte oder wachte. Hinter dem schwarzen Vorhang vor ihren Augen spürte sie, dass ihr die Dinge allmählich entglitten, als wäre nichts solide in der Welt verankert, als hätte die Schwerkraft nachgelassen und als wäre alles vereinzelt und zusammenhanglos. Sie wusste nicht, ob es Tag oder Nacht, Morgen oder Abend war. Sie konnte sich nicht erinnern, wie viele Tage sie schon gefangen gehalten wurde. Zeit, Ort, wer sie war, das alles schien in Auflösung begriffen. Der Schlaf brachte keine Erholung. Das Essen, das die Frau ihr so unregelmäßig brachte, machte sie nicht satt. Was sie zu trinken bekam, stillte nicht ihren Durst. Sie blieb hinter der Augenbinde eingesperrt und an Ort und Stelle angekettet.
Zum tausendsten Mal legte sie die Hand um Mister Braunbär. Sie kraulte das
Weitere Kostenlose Bücher