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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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gerade geliebt hatten, einfach stundenlang so wie jetzt verharrte. Erschöpfung und Höhenflug. Adrian wollte die Augen schließen, sich ins Bodenlose fallen lassen und sterben, genau in diesem Moment. Könnte man einfach mit dem Willen das Herz daran hindern weiterzuschlagen, dann hätte er es jetzt ohne zu zögern getan.
    Cassie beugte den Kopf über ihn und flüsterte: »Weißt du noch, Audie, wie oft du einfach nur so dagelegen und darauf gewartet hast, Tommys Tritte zu spüren?«
    Er erinnerte sich. Keine einzige Sekunde davon war vergeudet. Es war die glücklichste Zeit in seinem Leben gewesen. Alles stand ihnen offen. Er hatte seinen Doktor gemacht und die Stelle an der Uni bekommen. Cassie hatte gerade ihre erste Vernissage in einer renommierten Galerie in Soho hinter sich, und die Kritiken – in
Art World
und in der
New York Times
 – waren respektvoll bis begeistert gewesen. Sein Poesiekonsum – er verwendete dafür gern ein Vokabular, das gewöhnlich Süchtigen vorbehalten war – wurde gerade zur festen Gewohnheit. Er entdeckte Yeats und Longfellow für sich, Martin Espada und die junge Mary Jo Salter. Die Geburt ihres Sohnes stand kurz bevor. Jeden Morgen war er so aufgeregt, dass er mit unbändiger Energie in die ersten Sonnenstrahlen trat. Er hatte damit begonnen, kurz nach der Morgendämmerung zu joggen und in zügigem Tempo zehn Kilometer zu rennen, um für seinen Enthusiasmus ein Ventil zu finden und sich physisch zu verausgaben. Selbst die Geländelaufmannschaft seiner Universität, die im Joggen die positivste Sucht auf Erden sah, war zu dem Schluss gekommen, dass der frisch bestallte Psychoprof, der jeden Morgen an ihnen vorbeizog, mehr als ein bisschen wunderlich war.
    »Es gab damals so viel, woran unsere Liebe hing«, sagte Cassie in schwärmerischem Ton. »Doch das ist alles vorbei.«
    Er öffnete die Augen und merkte, dass er allein war und dass er den Kopf in ein Kissen und nicht in Cassies Schoß schmiegte. Er streckte die Hand aus, als könnte er sie festhalten und das Bild in seiner Erinnerung aufrechterhalten. Er spürte, dass er ihre Hand hielt, ohne sie zu sehen.
    »Für dich liegt Arbeit an«, sagte sie geradeheraus. Ihre Stimme kam zugleich von hinten, von oben, von unten und von innen. »Audie, worauf wartest du, jede Sekunde zählt.«
    Cassie war da und auch wieder nicht. Adrian setzte sich auf. »Jennifer«, sagte er.
    »Richtig. Jennifer.«
    »Ich kann mich kaum an ihren Namen erinnern«, sagte er.
    »Doch, Audie, das kannst du. Du siehst sie innerlich vor dir. Und du siehst auch, wer sie war. Erinnerst du dich an ihr Zimmer? Ihre Sachen? Die rosa Mütze? Das weißt du alles noch. Und ich bin auch noch da, um dich daran zu erinnern. Finde sie.«
    Diese Worte hallten nach wie in einer riesigen Höhle. Er hörte sie nicht zum ersten Mal, und so machte er auch nicht zum ersten Mal den Mund auf, um zu protestieren, er sei zu alt und zu verwirrt. Andererseits wusste er, dass Cassie auf solche Entschuldigungen nichts geben würde. Hatte sie schließlich noch nie.
    Er sah nach draußen. Die Nacht hatte die Welt noch fest im Griff.
Es ist sicher kalt,
dachte er.
Aber nicht so streng wie im Winter. Wenn ich rausgehen würde, könnte ich den Frühling fühlen. Er wäre noch in der Dunkelheit verborgen, doch er wäre da.
    Er stand auf, um zur Haustür zu gehen, blieb jedoch sitzen. Er sah in den Spiegel auf Cassies alter Frisierkommode und stellte fest, dass er mager war. Offenbar schmolzen unter der Krankheit die Pfunde dahin. Er nahm sich vor, anständig zu essen. Er fragte sich, ob er Stunden oder nur Minuten geschlafen hatte.
Nimm ein paar von den Medikamenten.
Du darfst nicht länger von einer Halluzination in die andere verfallen.
Ihm war klar, dass dies wahrscheinlich nicht mehr als ein frommer Wunsch war, egal, wie viele Pillen er schluckte. Außerdem mochte er seine Geister. Sie waren ein Teil seines Lebens, der ihm wesentlich mehr bedeutete als der Teil mit dem Sterben.
    Er kam sich wie ein sturer alter Mann vor, was, verflucht noch mal, gar keine so schlechte Sache war. Trotzdem ging er zu seiner Kommode, fand ein paar der Pillen, die ihm beim Kampf gegen die Demenz helfen sollten, ignorierte die Tatsache, dass er sich nicht erinnern konnte, wann er die letzten genommen hatte, und schluckte eine Handvoll. Dann marschierte er aus seinem Schlafzimmer in sein Arbeitszimmer hinunter, schob Papiere und Bücher zur Seite und ließ sich vor seinem Computer nieder. Das Einzige,

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