Der Professor
was er neben sich ausbreitete, war eine sechs Bundesstaaten umfassende Karte. Massachusetts. Connecticut. Vermont. Rhode Island. New Hampshire. Maine. Dann wandte er sich dem Computer zu und rief hintereinander die Register der Sexualstraftäter für jeden Bundesstaat auf.
Er tippte auf ein paar Tasten und klickte einen Namen an. Auf dem Bildschirm vor ihm erschien ein Verbrecherfoto: ein Mann mit Schweinsäuglein, die ihm verstohlen entgegenblickten, mit schütterem Haar und teigiger Haut. Genau, was Adrian erwartet hatte. Darunter war eine Liste mit Verhaftungen, Gerichtsverhandlungen und Verurteilungen. Es war eine Adresse angegeben, und in einem knappen Text wurden die Neigungen des Mannes beschrieben. Es gab eine »Gefährlichkeits«-Einstufung sowie eine Beschreibung seines Modus Operandi – alles klipp und klar, in nüchternem Polizeijargon. Er hatte sich vor einem Einkaufszentrum entblößt – das war eine der Verhaftungen, die Adrian aufgelistet fand. Kein Wort über die Auswirkung der Straftat auf die Opfer oder auch auf den Gesetzesübertreter selbst.
Adrian lehnte sich zurück und seufzte. Vielleicht konnte ein Profi mit solchen Einträgen etwas anfangen. Andererseits hatte er sein ganzes Leben lang Verhaltensweisen gedeutet. Wenn er etwas sah – ob eine Ratte im Labor oder einen Menschen –, machte er es sich zur Aufgabe, von den Handlungen auf die Triebfeder zu schließen. Jeder konnte Handlungen erkennen, das bloße Erfassen eines Geschehens war keine Kunst. Er dagegen hatte sich damit beschäftigt, wozu etwas geschah, was es über Menschen aussagte und welches künftige Verhalten sich darin ankündigte.
Er klickte ein weiteres Bild an. Ein anderer Mann: stämmig, Bart, mit dichtem, lockigem Haar und tätowiertem Körper. Der Eintrag enthielt Nahaufnahmen einiger Hautpartien – feuerspeiende Drachen, schwertschwingende Walküren und Motorradinsignien –, bevor er Informationen zu den Straftaten lieferte. Adrian starrte das Bild an und dachte wie bei dem Teiggesicht davor, dass er aus einem zweidimensionalen Bild keine Rückschlüsse ziehen konnte. Ihn beschlich der Gedanke, dass ihm die Informationen auf einem Computerbildschirm nichts darüber verraten würden, was für Menschen Jennifer gekidnappt hatten.
»Wenn dem so ist«, sagte Cassie und beugte sich über seine Schulter, um denselben Eintrag zu lesen, »bleibt dir wohl nur eine Möglichkeit.« Er spürte ihren warmen Atem an seiner Wange.
Er nickte. »Aber …«
»Hast du nicht immer gesagt, du würdest über die Versuchsergebnisse
anderer
mit gemischten Gefühlen lesen? Du hast im Grunde immer nur deinen eigenen Experimenten getraut. Als du dich mit Angst und ihren emotionalen Folgeerscheinungen beschäftigt hast, sag mir, wenn ich falschliege, aber hast du da nicht immer gesagt, du müsstest dich selbst davon überzeugen?« Cassie stellte gerne Fragen, auf die sie die Antwort bereits wusste. Adrian kannte das Verfahren, sie hatte es jahrelang erfolgreich angewandt.
Er zögerte. Es gab bohrende Fragen, die ihm keine Ruhe ließen. Ehe es ihm richtig bewusst war, fragte er etwas, das jahrelang in ihm gearbeitet hatte. »Es war kein Unfall, nicht wahr?«, fragte er seinerseits. »Mit dem Wagen, in dem Monat nach Tommys Tod. Das war keineswegs ein Unfall, stimmt’s? Du wolltest nur, dass es so aussieht. Dass du in einer verregneten Nacht die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hast und gegen diesen Baum gerast bist. Nur dass du in Wahrheit nicht die Kontrolle verloren
hast,
richtig? Es sollte ein Selbstmord sein, der für jeden Polizisten und jeden Versicherungsagenten wie ein Unfall wirken musste. Nur dass es nicht funktioniert hat. Du hast nicht damit gerechnet, gelähmt im Krankenhaus aufzuwachen, nicht wahr?« Adrian hielt die Luft an. Er war mit seinen Fragen wie ein allzu eifriger Schuljunge herausgeplatzt und wurde verlegen. Doch er wollte auch Cassies Antworten hören.
»Natürlich nicht«, schnaubte sie. »Und wenn du es sowieso die ganze Zeit geahnt hast, wieso ist es dir dann so wichtig, es jetzt hinauszuposaunen?«
Dazu fiel ihm nichts ein. »Wir haben nie darüber gesprochen«, antwortete Adrian. »Ich wollte es immer, aber solange du am Leben warst, wusste ich nicht, wie ich dich fragen sollte …«
»Noch so eben am Leben …«
»Ja. Gelähmt.«
»Mehr von Tommys Tod gelähmt als von einer verdammten Eiche bei hundert Stundenkilometern. So ist das nun mal, Audie. Du solltest das doch wissen.«
»Du hast
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