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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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schließlich auf der Stelle laufen. Wie Sport an der Grundschule, dachte Jennifer.
    Am Ende lief ihr der Schweiß von der Stirn, und sie kam ins Keuchen. Auch wenn sie nicht verstand, wozu sie ihr die Gymnastik verordneten, war ihr bewusst, dass sie ihr vermutlich guttat. Jennifer verstand nicht, wieso sie überhaupt irgendetwas von ihr verlangten, das ihre Kondition verbesserte – doch sie war entschlossen, bei allem, was ihr irgendwie half, die Kehrseite in Kauf zu nehmen. Nachdem die Frau gesagt hatte: »Das reicht«, hatte Jennifer trotzig noch fünfmal rasch hintereinander mit den Fingerspitzen die Zehen berührt.
    Die Frau hatte so lange geschwiegen und sie dann gefragt: »Hast du nicht gehört, Nummer 4?«
    Jennifer erstarrte. Hinter der Augenbinde kniff sie die Augen zusammen, weil sie jeden Moment mit einer Ohrfeige rechnete. Wieder trat eine Pause ein, dann sagte die Frau in scharfem Ton: »Wenn ich sage, das reicht, dann meine ich es genau so, Nummer 4. Willst du mich wirklich provozieren?«
    Das war das Letzte, was Jennifer wollte, und so schüttelte sie energisch den Kopf.
    »Zurück aufs Bett, Nummer 4.«
    Jennifer stieg wortlos wieder aufs Bett, so dass die Kette an ihrem Hals leise klirrte.
    »Iss, Nummer 4.« Die Frau stellte ihr ein Tablett auf den Schoß.
    Jennifer aß ihre Mahlzeit – eine kalte Schüssel mit Fertignudeln, dazu fetttriefende Fleischklößchen aus der Dose – und trank gierig ihre Flasche Wasser, ohne einen Moment zu vergessen, dass die Frau im Zimmer war, sie stumm beobachtete und wartete. Während sie aß, fand kein weiterer Wortwechsel statt, gab es keine Drohungen, keine Forderungen und auch sonst nichts, was irgendetwas an ihrer Situation änderte. Weiterhin trug sie nichts als ihre spärliche Unterwäsche und die Augenbinde, war gefesselt mit dem Hundehalsband und der Kette. Sie hatte sich daran gewöhnt, vom Bett aus die wenigen Meter zur mobilen Toilette zurückzulegen, die jemand geleert haben musste, während sie schlief, wofür sie dankbar war. Ein beißender Gestank nach Desinfektionsmitteln überlagerte jeden Geruch, der vielleicht von dem Essen ausging.
    Unter halbwegs normalen Umständen hätte sie über diesen ekelhaften Fraß die Nase gerümpft, doch die Jennifer, die das getan hätte, gehörte zu einem früheren Leben, das nicht mehr zu existieren schien. Es war eine Phantasie oder eine Erinnerung an ein Mädchen, das einen an Krebs gestorbenen Vater hatte und eine weinerliche Mutter und einen perversen Stiefvater in spe, das in einem langweiligen Vorstadthaus in einem kleinen Zimmer mit ihren Büchern und ihrem Computer und ihren Stofftieren lebte und von einem anderen, aufregenderen Leben träumte. Besagte Jennifer war an einer langweiligen Schule, an der sie keine Freunde hatte. Besagte Jennifer hasste so ziemlich alles in ihrem täglichen Dasein. Doch besagte Jennifer war verschwunden. Ihre Doppelgängerin, die eingesperrte Jennifer, erkannte, dass sie sich ans Leben klammern musste – wenn die Frau und der Mann ihr sagten, sie solle Gymnastik machen, dann würde sie Gymnastik machen. Egal, was für einen Fraß sie ihr vorsetzten und wie er schmeckte, sie würde ihn essen.
    Sie leckte ihre Schüssel aus, um jeden Krümel Nahrung und Proteine herauszuholen; alles, was sie bei Kräften hielt. Sie horchte, da die Tür aufging.
    Als die Frau sich bückte, um das Tablett wegzunehmen, raschelte es ein bisschen. Jennifers Kopf fuhr in die Richtung herum, aus der das Geräusch kam, und sie wartete auf einen Wortwechsel. Sie hörte Flüstern. Sie konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde. Sie hörte ein platschendes Geräusch. Sie versuchte sich zu erklären, was es war.
    Sie spürte, wie jemand den Raum durchquerte. Jennifer bewegte sich nicht, spürte aber die Nähe einer weiteren Person, und als sie schnupperte, roch sie den Duft von Seife.
    »Also, Nummer 4, du musst dich waschen.« Jennifer schnappte nach Luft. Es war die Stimme des Mannes, nicht der Frau. Auch er gab seine Anweisungen in einem kalten, ausdruckslosen Ton.
    »Einen halben Meter vom Bettrand entfernt steht ein Eimer Wasser. Hier ist ein Handtuch und ein Waschlappen. Hier ist ein Stück Seife. Stell dich neben den Eimer. Wasch dich. Versuch nicht, die Augenbinde abzunehmen. Ich bin ganz in der Nähe.«
    Jennifer nickte. Wäre sie der Typ fürs Friedenscorps gewesen oder jemand, der militärischen Drill absolviert hatte, vielleicht sogar eine ehemalige Pfadfinderin, dann hätte sie genau

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