Der Professor
gewusst, wie man nur mit einem Stück Seife und einer geringen Menge Wasser gründlich sauber werden kann. Doch die wenigen Male, die sie mit ihrem Vater zum Zelten gefahren war, bevor er starb, waren sie auf Campingplätzen mit Bädern und Duschen gewesen beziehungsweise an einem Fluss oder einem Teich, in den man springen konnte. Das hier war etwas anderes.
Sie setzte sich auf den Bettrand und ertastete mit der Zehe den Eimer. Sie beugte sich herunter und fühlte das Wasser. Lauwarm. Sie zitterte.
»Zieh dich aus.«
Jennifer erstarrte. Sie merkte, wie ihr eine heiße Woge durch den ganzen Körper flutete. Es war nicht Verlegenheit, sondern Demütigung. »Nein, ich …«, fing sie an.
»Ich habe dir nicht erlaubt zu sprechen, Nummer 4«, sagte der Mann.
Sie spürte, wie er näher kam. Sie stellte sich vor, wie er die Faust geballt hatte und dass sie kurz davor war, geschlagen zu werden. Oder schlimmer. Die Verwirrung durchzuckte sie in heftigen Wogen: Hemmungen, die sie nicht länger haben sollte, das Bedürfnis, einen letzten Rest an Würde zu bewahren, Zweifel daran, wo sie war und was von ihr erwartet wurde, und die ständige Frage:
Wie bleibe ich am Leben?
»Das Wasser wird kalt«, sagte der Mann.
Sie hatte sich noch nie einem Jungen oder einem Mann gezeigt. Sie merkte, wie sie vor Scham rot anlief. Sie wollte nicht nackt sein, auch wenn sie es schon die ganze Zeit beinahe war und wusste, dass sie wahrscheinlich beobachtet wurde, wenn sie die Toilette benutzte. Doch das Ablegen dieser zwei letzten Kleidungsstücke, die ihr geblieben waren, bereitete ihr eine Angst, die über Verlegenheit weit hinausging. Sie fürchtete, sie könnte sie nicht wiederfinden oder der Mann würde sie ihr wegnehmen und sie vollständig entblößt zurücklassen.
Wie ein Baby,
dachte sie.
Doch im selben Moment erkannte sie, dass ihr gar nichts anderes übrigblieb. Der Mann hatte sich unmissverständlich ausgedrückt, was er jetzt unterstrich, indem er böse brummte: »Wir warten alle, Nummer 4.«
Sie hakte langsam ihren BH auf und legte ihn aufs Bett. Dann stieg sie aus ihrem Slip. Es bereitete ihr beinahe physische Qualen. Eine Hand zuckte unwillkürlich nach vorn, um ihre Scham zu bedecken. Die andere hielt sie sich vor die Brüste. Hinter der Augenbinde spürte sie den brennenden Blick des Mannes auf sich, der ihren Körper hinunterwanderte und sie wie ein Stück Fleisch beschaute.
»Mach schon«, forderte der Mann sie auf.
Sie beugte sich so züchtig, wie sie konnte, hinunter, tauchte den Waschlappen ins Wasser und rieb die Seife daran. Dann richtete sie sich auf und fing langsam und systematisch an, sich zu waschen: das Gesicht – wobei sie sich Mühe gab, die Augenbinde nicht zurückzuschieben. Den Hals. Die Unterarme. Die Brust. Den Bauch. Die Beine. Die Füße, alles so sittsam, wie sie konnte.
Der Seifenschaum an ihrer Haut hatte eine ungeahnt belebende Wirkung. Schon nach wenigen Sekunden hatte sie das Gefühl, dass es nichts Wundervolleres gab, als sich auf diese Weise zu waschen. Der Raum, die Kette, das Halsband, das Bett – alles war verschwunden. Es schien ihr, als könnte sie die Angst abwaschen, und mit der Angst fiel plötzlich die Befangenheit von ihr ab. Sie strich sich mit dem Waschlappen über die Brüste, dann über Schritt und Oberschenkel. Sie dachte auf einmal daran, wie schön es sein musste, sich im Frühsommer am Cape nackt in die salzige Brandung zu stürzen oder an einem heißen Augustnachmittag im kühlen, strömenden Wasser eines Flusses zu planschen – doch all das konnte kaum die Wohltat des Eimers und der Seife und des Waschlappens übertreffen.
Jetzt scheuerte sie ihre Haut, als wollte sie eine ganze Schicht abtragen wie eine Schlange, die sich häutet, um vor Sauberkeit zu glänzen, und mit dem Hochgefühl, sich etwas Gutes zu tun. Sie war sich bewusst, dass der Mann ihr zusah, doch jedes Mal wenn sich ein Gefühl von Scham einschleichen und ihr die Freude am Waschen verderben wollte, wiederholte sie im Stillen einfach wie ein orientalisches Mantra:
Du kannst mich mal, du kannst mich mal, du kannst mich mal, Scheißkerl.
Danach fühlte sie sich nur noch besser.
Sie wollte sich gerade noch einmal waschen und hatte schon fast den Waschlappen am Oberarm, als der Mann sagte: »Nein, nicht da.« Sie hörte auf.
Der Mann sprach leise, doch eindringlich weiter. »An deinem Unterbauch, zwischen Hüfte und Schritt, fühlst du eine kleine Erhebung wie ein Pflaster. Spar das
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