Der Profi
anschließend hat ihn ein Unbekannter vor dem Restaurant mit einem Kugelhagel wie ein Sieb durchlöchert. Insgesamt fünfundsiebzig Einschüsse! Wie es aussieht, sind von dem Schweinehund weder Brust noch Gesicht übrig geblieben.«
Cruz stand wie erstarrt vor dem Schreibtisch. Ein plötzlicher Hitzeschwall stieg in ihr auf, dann spürte sie, dass kalter Schweiß an ihren Schläfen stand. Ich erwähnte es ja schon: Die Hilfskommissarin schluckte in letzter Zeit einfach zu viele Tabletten und Alkohol.
»Warum ausgerechnet ich?«, fragte Cruz nach einer Weile und bereute ihre Worte sofort.
»Weil ich dich am leichtesten entbehren kann. Die anderen drei brauche ich dringender vor Ort.«
»Gibt es zwischen den beiden Morden denn einen Zusammenhang?«
»Ich hab nicht die geringste Ahnung«, antwortete der Kommissar flapsig. »Die aus Madrid wollen von uns die vollständige Akte über Sergej Tschernekow. Mit anderen Worten: Sie haben einen Verdacht! Das reicht mir voll und ganz. Und ich will unter keinen Umständen, dass diese hochnäsigen Hauptstädter uns den Fall wegschnappen.«
Die Verteidigung des eigenen Ego …, dachte sich Cruz. Gerechtigkeitsstreben und Pflichtbewusstsein ihres Bosses verschärften sich noch zusätzlich, wenn er sich einen persönlichen Vorteil davon versprechen konnte.
»Also, Navarro. Ich habe gestern mit den Leuten von der UDYCO in Madrid gesprochen. Sie werden dich im Rahmen ihrer Ermittlungen zur Bekämpfung von Drogenhandel und organisierter Kriminalität als Verbindungsfrau für Mallorca einschalten. Ich möchte tägliche Berichte von dir bekommen, auch von den drei Idioten aus deinem Team.« Bei jedem dritten Wort klopfte ihr Chef mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Und ich will verdammt noch mal wissen, wer diesen unseligen Tschernekow in Hackfleisch verwandelt hat. Ich brauche Namen und bitte keine Ausreden! Du bestellst ein Ticket und fliegst noch heute nach Madrid, verstanden?«
»Aber ich muss noch mit den Mietwagenfirmen sprechen …«
»Darum soll sich Moncada kümmern!«
»Verstanden. Bei wem soll ich mich in Madrid überhaupt melden?«
»Weitere Einzelheiten bekommst du von Señorita Pinillos«, sagte der Kommissar, womit er die Sekretärin des Kommissariats meinte. »Ach, Navarro, noch was … Keine großen Ausgaben, wir gehören schließlich nicht zur spanischen Königsfamilie. Spesen flach halten, Einsterne-hostal, kauf dir eine Streifenkarte und zum Mittagessen immer schön Tagesmenü! Gut, das wär’s fürs Erste. Nein, noch was: Tägliche Berichte, und zwar erschöpfend bis ins kleinste Detail . Verstanden, Frau Hilfskommissarin?«
Als Nächstes will ich Ihnen meinen aktuellen Boss, Boris Iwanowitsch Tertschenko, näher vorstellen. Sein Name wird Ihnen im Laufe dieser Geschichte noch häufiger begegnen.
Mein Boss kam Mitte der 40er-Jahre in einer kinderreichen Familie zur Welt: insgesamt fünf Jungen und vier Mädchen. Zwei seiner Brüder starben im Zweiten Weltkrieg. In seiner Familie waren so ziemlich alle Berufe ver treten: Militärs, Büroangestellte, Fabrikarbeiter und Lehrer, aber keiner von ihnen war Parteimitglied geworden. Obwohl dies eigentlich das Normale gewesen wäre. Um nicht zu sagen, die intelligenteste Lösung. Dennoch hatte keines der Kinder den Schritt unternommen.
Die Jahre, die Boris am meisten geprägt haben und über die er mir am intensivsten berichtet hat, waren die seiner Kindheit in einem genossenschaftlichen Wohnblock im sogenannten Leningrader Sektor in Moskau. Seine Familie bewohnte zwei von drei Zimmern einer kleinen Wohnung. Im dritten Zimmer lebte eine Witwe. Eine Umzäunung aus Metalldraht umgab das neunstöckige Gebäude. Die Nachbarn der Umgebung nannten es die »jüdische Festung«.
Boris Iwanowitsch war damals schon alt genug, um zu verstehen, was es bedeutete, wenn von Zeit zu Zeit Personen verschwanden und die Familien im Block voller Klage und Verzweiflung zurückblieben. Väterchen Abramowitsch war eines Tages weg. Ein Onkel der Familie Schklowski verschwand an einem kalten Oktobermorgen. Ein anderer Bewohner, ein jüdischer Greis, hatte sich aufgehängt, bevor man seine Wohnung durchsuchen kam. Und in der darauffolgenden Woche suchte Frau Litewski flehend ihre Nachbarn auf, damit sie ihre Juwelen in ihrem Schrank versteckten. Als die Hausdurchsuchung vorüber war, wollte sie ihre Schätze – es war alles, was sie besaß – wieder zurückhaben. Doch ihre Nachbarn weigerten sich hartnäckig. Sie hatte keine Chance.
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