Der Profi
Die Devise lautete: »Fressen oder gefressen werden.«
Später tauchten mehrere düster anmutende Männer vor der Haustür der Familie Iwanowitsch auf. Sie hielten einen Durchsuchungsbeschluss in der Hand. Sie kamen von der Schutzorganisation der Kommunistischen Partei und suchten unter den erschrockenen Blicken seiner Eltern nach gestohlenen Silberbarren (die sie nicht fanden!). Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass einer der Nachbarn Boris Iwanowitschs Familie zu Unrecht denunziert hatte.
Das war die Atmosphäre, in der man in jenen Jahren in der Sowjetunion lebte.
Die, die in der Partei waren, verfügten über Macht, und zwar eine kolossale Macht. Selbst die niederträchtigs ten und unbedeutendsten apparatschiks hatten Einfluss und Entscheidungsgewalt. Und so entstand im Handumdrehen die russische Mafia: Das einfache Volk brauchte Schutz, und für den sorgte die Partei (eigentlich ein Widerspruch, bedenkt man, dass der größte Teil der Bedrohung von der Partei selbst kam).
In der Wohnung nebenan kreuzte sporadisch ein kleiner Beamter auf, ein schmieriger und versoffener Typ, der vulgäre Witze riss und unfreundlich dreinblickte. Die Mieterin, eine Frau, deren Mann die Todsünde begangen hatte, Künstler zu sein, musste für seine »Freveltaten« ihren Körper hinhalten. Andernfalls drohte der Beamte, sie beim KGB – dem allseits gefürchteten sowjetischen Geheimdienst – zu denunzieren. Also blieb der Frau nichts anderes übrig, als sich ab und zu dem Kerl hinzugeben. Boris Iwanowitsch mied ihn wie die Pest. Einmal erkundigte er sich beim Sohn der Nachbarin, wer jener abstoßende Mensch sei. Der Junge antwortete Boris: »Der ist ’n Schwein! Aber Mama sagt, seine Besuche sind nun einmal notwendig. Er frisst wie ein Scheunendrescher und säuft, bis er vom Stuhl fällt.« Solange diese Besuche andauerten, hatte die Nachbarin von Boris Iwanowitsch nicht das geringste Problem. Das Verschwinden von Personen, die Bedrohungen und die Hausdurchsuchungen dauerten jedoch für alle anderen an.
Boris Iwanowitsch hatte von der Partei, wie man sich denken kann, also keinen besonders guten Eindruck bekommen.
Die Jahre vergingen, und Boris landete, nachdem er die Chance verpasst hatte, die Universität zu besuchen, schließlich bei der Roten Armee. Der Militärdienst dauerte drei Jahre, für einen jungen Mann eine halbe Ewigkeit. Er wurde zu einem geheimen Waffenstützpunkt in der DDR abkommandiert, wo Hunderte von nuklearen Sprengköpfen geduldig auf den Befehl warteten, die westliche Welt zu zerstören. Boris Iwanowitsch hatte in der Zwischenzeit viel beim Militär gelernt.
Die Korruption war unter den Soldaten zwar nicht so ausgeprägt wie in der Partei, vielleicht war sie aber auch nur subtiler. Jedenfalls hatte Boris sie dort mit allen Finessen kennengelernt. Alle sechs Wochen wurde das Regiment einer Generalinspektion unterzogen, um die Einsatzfähigkeit der Truppe zu prüfen. Die Befehlshabenden füllten die Kontrolleure aus Moskau regelmäßig mit Alkohol ab, und ihre Beurteilungen fielen danach immer hervorragend aus. Alkohol, Drogen, Schmuggeltabak, Zuhälterei waren die Laster, die normalerweise unter der Kontrolle der Offiziere standen. Die älteren unter den Soldaten hatten die jüngeren im Blick, und die Offiziere kassierten das Schutzgeld. So ziemlich alles war als Tauschwährung zugelassen: Bargeld, Zigaretten, Wodka.
Und in der Roten Armee hatte Boris Iwanowitsch auch gelernt, was maßloser Ehrgeiz bedeutete. Für die Soldaten mit dem geringsten Talent gab es einen klaren Karriereweg: Sie wurden zu »politischen Offizieren«, immer bereit, die Doktrin von den Vorzügen des Kommunismus und der Partei unter den Soldaten zu verbreiten. Sie sorgten dafür, die Truppe auf Linie zu halten, und wandten die Methoden der Gehirnwäsche an, damit die Soldaten sich gar nicht erst fragten, ob ihr Leben wirklich so viel besser war als das, von dem sie aus der benachbarten Bundesrepublik übers Radio erfuhren. Sie verkündeten brüllend ihre marxistisch-leninistische Theorie und verhängten drakonische Strafen über jeden, der daran zweifelte. Die allerschlimmsten unter den Offizieren, das hat mir Boris immer wieder erzählt, machten in der Roten Armee am schnellsten Karriere.
Boris hatte seine Lektion beim Militär und in der »jüdischen Festung« bis ins kleinste Detail gelernt.
Dem Weg eines Kumpels folgend, verschlug es ihn später in die 2500 Kilometer östlich von Moskau gelegene Stadt Perm. Zur
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