Der Profi
entfernten Verwandten, der mich wie einen Sohn in seine Familie aufnahm. Damals war ich zehn Jahre alt. Während meiner Zeit in New York ging ich auf die staatliche Highschool, weil Zio Enzo mich dort angemeldet hatte. Ein paar Jahre später schickte er mich auf die Universität von Nevadain Las Vegas. Als meine Zeit an der Uni sich dem Ende neigte, stellte Zio Enzo mich unter die Fittiche der Familie Angellini. Hätte er damals nicht diesen Weg für mich gewählt, wäre ich heute wahrscheinlich ein ehrsamer Geschäftsmann oder ein aufopferungsvoller Angestellter eines amerikanischen Konzerns. Aber er tat für mich, was er konnte, und bot mir das Beste, was er zur Hand hatte. Ich werde ihm stets dafür dankbar sein.
Die Trattoria von Zio Enzo befand sich – und befindet sich heute noch – in der hunderteinundfünfzigsten Straße in New Yorks Bronx. Unweit des Hudson River und des Baseballstadions der Yankees. Die Bronx ist voll von roten Ziegelfassaden, farbigen Markisen, Zeitungs kiosken und sich schwerfällig fortbewegenden Werbetafeln, hinter denen Menschen stecken, die alle nur denkbaren Produkte anpreisen. Die Gehsteige sind schmutzig, und es sind viel zu viele Halbwüchsige auf der Straße. Die Bronx von damals hat kaum mehr etwas mit der von heute zu tun. Dort zu wohnen war hart, aber das Leben auf der Straße pulsierte auf Hochtouren. Die Läden priesen ihre Waren auf knallbunten Tafeln an, die mitten auf dem Gehsteig standen. An jeder Straßenecke gab es Würstchen- und Brezel-Stände, und gruppenweise drückten sich kräftige Typen in Muskelshirts herum.
Und dort lernte ich, was es heißt, ein Mann zu sein. Wie ich auch den Unterschied zwischen einer Focaccia napolitana , ihrem bescheidenen Aroma ohne höhere Ansprüche, und einer italo-amerikanischen Pizza kennenlernte, die mit einem halben Liter zähflüssiger Tomatensoße bedeckt ist, gekrönt von einer zentimeterdicken Schicht Mozzarella und feurig-scharfer Peperoni.
Seit ich Madrid vor zehn Monaten im Eiltempo verließ, um in den Südpazifik zu fliehen, habe ich alle möglichen exotischen Gerichte bis zum Überdruss genossen: in Zitronensoße eingelegten Fisch, mariniertes Schweinefleisch oder Hühnchen, Hummer in Kokosnusssoße, Mangos, Bananen, poi und mahi mahi , manchmal sogar Schildkröten- und Hundefleisch … aber nicht eine einzige runde, saftige Pizza. Das war der Grund, weshalb ich in dieser Nacht ein Restaurant aufsuchte, das von einem Italiener geführt wird und dessen Qualität meine Erwartungen vollauf erfüllen würde!
Auf der Suche nach der perfekten Pizza habe ich den ganzen Globus bereist. Sie zu finden war keine leichte Aufgabe. Ich habe sie an Orten genossen, an denen man sie bevorzugt mit Chili con carne oder mit gebratenen Heuschrecken zubereitet. Häufig bekam ich Pizzas mit fadem Mozzarella, lascher Tomate oder ranzigem Oregano vorgesetzt. Ich habe auch Pizzas genossen, die ein wahres Gedicht waren, hauchdünn gebacken und knusprig. Mit frischem Büffelmozzarella oder sorgsam ausgewählten Tomaten. Das Geheimnis einer guten Pizza liegt in ihrer Ausgewogenheit! Wie bei so vielen anderen Dingen des Lebens. Ausgewogenheit ist immer mein Ziel gewesen! Auch wenn ich dafür wahrscheinlich nicht den passenden Beruf gewählt habe. An jenem Abend in Madrid aß ich jedenfalls eine echte italienische Pizza, begleitet von einer exzellenten Flasche Brunello di Montalcino .
Als ich das Restaurant verließ, war es fast Mitternacht. Wieder auf der Straße, steckte ich mir eine Zigarette an. Dann drehte ich mich um und ließ den Blick ohne große Verstellungskünste über die nähere Umgebung schweifen. Und da stand er wieder: mein Schattenmann! Etwa zwölf Meter von mir entfernt, sichtlich darum bemüht, nicht aufzufallen. Ich ging auf ihn zu.
»Geh endlich nach Hause!«, sagte ich umstandslos zu ihm.
Der Mann setzte seine beste Unschuldsmiene auf und antwortete mit zähem russischem Akzent:
»Verstehe nicht? Ich warte auf Freund …«
»Aber ja doch!«
Das Schweigen wurde langsam, aber sicher unbehaglich, und der Mann trat unentschlossen von einem Fuß auf den anderen.
»Ich habe Befehl …«
»Ist egal!«, unterbrach ich ihn. »Komm, mach endlich die Fliege!«
Vielleicht hatte man ihm von mir erzählt. Oder vielleicht hatte er gemerkt, dass es, nachdem ich ihn nun entdeckt hatte, kaum mehr Sinn hatte, mich weiter zu beschatten. Jedenfalls zog er mit einer dahingemurmelten Ausrede auf den Lippen ab. Dass der Fremde sich mir
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