Der Profi
doch ihre Wohnung auf Mallorca!
Am nächsten Morgen wachte Cruz früh auf, erschrocken und gleichzeitig verwirrt von dem ungewöhnlichen Anblick, der sich ihren Augen bot. Ihr Albtraum hatte sie auch in dieser Nacht wieder heimgesucht, das Mündungsfeuer des Revolverschusses hatte sie schlagartig aus dem Schlaf gerissen. In Palma hatte sie für solche Fälle immer eine Schachtel Schmerzmittelim Nachttisch. Hier fand sie nichts. Ihr blieb keine andere Wahl, als den Schmerz zu ertragen. Es überkam sie eine unendliche Traurigkeit. Selten hatte sie sich so einsam, dem Leben so preisgegeben gefühlt. Sie zog die Beine an und fing an zu weinen. Dicke Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie fühlte weder Wut, noch schluchzte sie laut, sie überließ sich ganz einfach ihren Gefühlen.
Dann stand sie auf und rief ihre jüngere Schwester in Deutschland an. Sie hatte sie schon über ein Jahr nicht mehr gesehen, und sie vermisste sie. Es sprang nur ein Anrufbeantworter an. Cruz hinterließ eine Nachricht. Gegen neun Uhr machte sie sich auf den Weg ins Kommissariat der Madrider Kriminalpolizei. (Diesmal wählte sie die U-Bahn, sie wollte die Geduld und den Spesenetat ihres Chefs nicht überstrapazieren.)
Kommissar Hilario Jarrete war der regionale Leiter der UDYCO in Madrid und für die Ermittlungen im Fall zuständig. Die UDYCO ist eine Spezialeinheitzur Bekämpfung von Drogenhandel und organisierter Kriminalität, die der spanischen Kriminalpolizei unterstellt ist. Sie besteht aus der Einsatzbrigade für Rauschmittel, der Einsatzbrigade für Organisiertes Verbrechen und einer Einheit, die direkt an das Büro des Generalstaatsanwalts angeschlossen ist. So jedenfalls steht es auf dem Schild am Eingang des Gebäudekomplexes der Madrider Kripo im Stadtviertel Canillas. Die UDYCO war ebenjene Truppe, die mir in der Vergangenheit schon mehrfach Kopfschmerzen bereitet hatte und die mich sicherlich aufsuchen würde, sobald sie Wind davon bekam, dass Lucca Corsini wieder in der Stadt war,
Kommissar Jarrete hatte Anweisung erteilt, dass man Cruz, sobald sie ankomme, in sein Büro führen solle. Sein Interesse entsprang vor allem seiner Neugier auf die Informationen, die Cruz mitbrachte, weniger dem Bedürfnis, sie willkommen zu heißen. Die Hilfskommissarin folgte einem uniformierten Beamten auf seinem Weg durch Aufzüge und Flure und stellte sich dann bei Jarrete vor.
»Nehmen Sie Platz!«, begrüßte sie der leitende Kommissar, als Cruz in seinem Büro stand. Hilario Jarrete ist ein Mann mit groben Gesichtszügen, tief eingefallenen Augenhöhlen und einem berechnenden Ausdruck – man kann sich diesen Mann nur schwer in Gesellschaft seiner Familie oder von Freunden vorstellen. Aber er hat den Ruf, auf seinem Gebiet ein absoluter Profi zu sein. »Haben Sie die Berichte mitgebracht, die wir bei Ihnen in Auftrag gegeben haben?«
Cruz machte ihren Koffer auf und überreichte Jarrete ein dickes Aktenbündel, in dem Tschernekows Biografie und seine Untaten detailliert beschrieben waren. Cruz und ihr Team hatten zwar keine schlechte Arbeit geleistet, allerdings war ich froh, dass der größte Teil dessen, was auf diesen Seiten stand, niemals bewiesen werden konnte.
»Wie Sie sich leicht vorstellen können, ist das Dossier nicht vollständig. Die komplette Akte ist viel zu umfangreich, um sie einfach so mitzubringen. Aber ich kann Sie über alles, was Sie wissen wollen, informieren.«
»Ja, ja natürlich«, murmelte Jarrete.
Dann schlug er das Aktenbündel auf und las zehn Minuten darin. Irgendwann klappte er es einfach wieder zu und lehnte sich im Sessel zurück.
»Was wissen Sie über Anatoly Zagonek?«
»Wenn ich mich nicht täusche, wurde er in Sankt Petersburg geboren und kam Anfang 2000 nach Spanien. Er arbeitet für Viktor Stonowitsch, richtig?«
Jarrete nickte und ließ sie fortfahren.
»Tschernekow erwähnte ihn ebenfalls gelegentlich. Zagonek ist seine Verbindungsperson in Madrid, glaube ich.«
»Exakt, Frau Hilfskommissarin! Zumindest teilweise. Sagen wir besser, Zagonek war Tschernekows Informant … Gestern hat ein Kugelhagel von insgesamt fünfundsiebzig Schüssen seinem Leben ein Ende bereitet. Unsere Experten von der Ballistikabteilung versichern, dass der Mörder Neun-Millimeter-Parabellum-Munition benutzt hat. Und aufgrund der Geschwindigkeit, mit der die Schüsse abgegeben wurden, kommt eigentlich nur eine Maschinenpistole vom Typ Uzi in Frage. Zagonek ist regelrecht durchsiebt worden. Maschinenpistolen
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