Der Protektor von Calderon
so dachte er, hätte diesen Befehl wegen seiner Grundsätze bestimmt nicht ausgeführt.
Marcus zwang sich, Estellis und ihre Tochter Estara wieder anzusehen und an ihnen vorbei zu den hunderten von Freien aus Othos zu blicken. Dutzende von Familien. Frauen. Kinder. Alte. Wie konnte Arnos sich einen so brutalen Plan ausdenken?
Weil du ihn darauf gebracht hast, du Narr.
Die junge Frau … Estellis starrte ihn bleich an. Sie gestattete
sich keine Tränen - sicherlich ihrer Tochter wegen, die schläfrig an ihrer Seite hing -, doch ihre Augen glänzten feucht. »H-Herr …«, sagte sie leise. »Die Kinder haben Hunger.«
Die Krähen sollen Arnos holen, dachte Marcus böse. Die Krähen sollen ihn holen und bis zum letzten Bissen auffressen.
Doch es gab weiterhin Hoffnung. Antillus Crassus nahm sich viel Zeit, um zu überprüfen, ob wirklich keiner der Gefangenen der Civitas angehörte. Marcus hätte es vielleicht nicht bemerkt, wenn er nicht schon seit zwei Jahren mit dem jungen Mann zusammenarbeiten würde, aber es roch stark danach, als würde der Tribun absichtlich langsam machen.
Crassus würde das nicht aus eigenem Antrieb tun. Er war pflichtbewusst bis hin zum Wahnsinn, und er erledigte seine Aufgaben stets mit ruhigem Fleiß und Tüchtigkeit. Solange er nicht plötzlich Gefallen am Schlendrian gefunden hatte, erfüllte er einfach nur seine Pflicht.
So. Demnach hatte der Hauptmann etwas vor.
Marcus hatte keine Ahnung, was. Eigentlich gab es auch nur zwei Möglichkeiten, doch der junge Mann hatte eine Begabung dafür, Wege zu beschreiten, deren Existenz zuvor niemandem aufgefallen war. Vielleicht gelang es ihm diesmal wieder.
Bitte, hoffentlich gelingt es ihm.
Marcus stand das Blut schon bis zum Hals. Noch mehr, und er würde darin ertrinken.
Er setzte eine kalte Miene auf, härter als Stein. Wenn die Gefangenen in Panik gerieten, konnte niemand die Folgen abschätzen. »Gute Frau«, sagte er. Er begann, seinen Befehl zu wiederholen, erwischte sich jedoch dabei, wie er der kleinen Estara in die Augen schaute. Sein Atem entfuhr ihm in einem langen Seufzer. »Estellis«, sagte er leise. »Ich versichere dir, der Hauptmann tut alles, was in seiner Macht steht, damit ihr so bald wie möglich nach Hause gehen könnt. Aber bis dahin steht ihr an der Frontlinie des Kriegs inmitten von Männern, die heute hart kämpfen mussten. Um deiner eigenen Sicherheit willen, kehr zu
den anderen zurück.« Er sah das kleine Mädchen nochmals an und fügte hinzu: »Ich schaue mal, ob ich etwas zu essen besorgen kann.«
Die junge Frau starrte ihn an, und Marcus sah, wie sie versuchte herauszufinden, ob er die Wahrheit sagte oder sie einfach zurückschickte, damit sie mit den anderen auf ihren Tod wartete wie eine dumme Kuh. Sie hätte sich die Mühe nicht zu geben brauchen. Selbst wenn sie über große Begabung und Übung im Wasserwirken verfügt hätte, hätte er sie dennoch davon überzeugen können, dass der Himmel grün sei.
»Ich … gut, Zenturio.« Sie deutete erneut unbeholfen einen Knicks an. »Danke.«
»Legionare«, knurrte Marcus.
Der junge Legionare nahm Haltung an. »Zenturio.«
»Bitte bring Frau Estellis und ihre Tochter zu den anderen zurück.« Er nickte ihr zu. »Meine Dame.«
Die Frau blickte Marcus noch einmal unsicher an, drehte sich um und ging mit dem Legionare zu den anderen Gefangenen zurück.
Bortus, ein Veteran der Legionares - wenngleich ja jeder, der als Fisch bei der Ersten Aleranischen angefangen und bis jetzt überlebt hatte, sich längst das Recht verdient hatte, sich Veteran zu nennen -, beugte sich zu Marcus vor. »Zenturio? Was sollen wir eigentlich mit diesen Leuten anstellen?«
»Halt den Mund, Bortus. Sobald ich es weiß, wirst du es ebenfalls erfahren.« Marcus schaute zu, wie sich Estellis mit Estara wieder setzte, und er schnitt eine Grimasse.
Was immer der Hauptmann vorhatte, er sollte sich lieber beeilen.
17
Tavi saß schweigend in Arnos’ Windkutsche und verfluchte sich für seine Dummheit. Er hätte es besser wissen müssen und nicht einfach zu einem so verdächtigen Treffen aufbrechen sollen, ohne sich zu vergewissern, ob er unter Beobachtung aus der Luft stand.
Natürlich hätte er unter den Umständen wenig tun können. Seine eigenen Ritter Aeris, die müde von den Anstrengungen der Schlacht am Morgen waren, standen nicht zur Verfügung, und sie wären wohl die Einzigen gewesen, denen die Beobachtung von hoch oben aufgefallen wäre. Und selbst wenn sie da gewesen
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