Der Puls von Jandur
unterschiedlichsten Varianten, wie Matteo rasch feststellte. Die Kaiserin war offenbar sehr auf ihren Traum fixiert.
Der Tempel war gut doppelt so groß wie jener in Kiraşa. Von der Bauweise her ähnlich, nur viel einladender: weiße Mauern, eine offene, von Säulen gestützte Halle und viele Fenster. Eine Straße mit Wagenspuren verriet, dass hier täglich die Auserwählten angeliefert wurden, um ihre Reise ins Quellparadies anzutreten. Eine furchtbare Frage drängte sich Matteo auf: Was machen sie mit den Leichen?
Rechter Hand waren weitläufige Koppeln angelegt. Barcas grasten auf der Wiese, also mussten die flachen Gebäude dahinter die Stallungen sein. Ein Wagen war davor abgestellt, der jenem in Kiraşa zum Verwechseln ähnlich sah. Ob heute schon ein Transport angekommen war?
Sie betraten den Tempel durch einen Seiteneingang und schritten hinter Gearwin durch einen Korridor. Der Fußboden war aus weißem Marmor gefertigt, Malereien schmückten die Wände. Matteo erkannte die Smaragdflüsse. Vögel kreisten darüber und im grünen Wasser umschwärmten Fische zylindrische Wasserpflanzen, die ihm irgendwie bekannt vorkamen. Es war nur ein winziger Erinnerungsschnipsel und schon tanzte er davon.
Gearwins Umhang flatterte, Matteos Herz raste und außerdem spürte er noch etwas: Sein Puls regte sich. Ein pochendes Stechen – endlich!
Der Kanzler geleitete sie in einen Audienzsaal und schloss die Tür. Er musterte Reylan von oben bis unten.
»Und Ihr seid sicher …«, begann er, doch Reylan dämpfte seine Worte aus wie Asche: »Ich bin sicher. Kanzler.«
»Wie Euch beliebt. Wartet hier. Ich werde Euren Besuch melden.« Damit stahl sich Gearwin durch eine zweite Tür schräg gegenüber.
Reylan grummelte etwas, das wie »eingebildeter Schleimkriecher« klang, danach herrschte Stille. Lith stierte zu Boden und so betrachtete Matteo die Fresken an der kuppelförmigen Decke.
Sämtliche Wesen Jandurs fanden sich hier friedlich vereint – Feen mit bunt schimmernden Flügeln, Barcas, Nymuren, Schlangenläufer, Zwerge, die Streitäxte schwangen, Elfen mit blassen Gesichtern und weißblondem Haar, Quellbrüder in ihren Kutten, Wölfe mit silbergrauem Fell, Magier, die Lichtblitze abschossen. Und mitten im Getümmel saß auf ihrem goldenen Thron die Kaiserin.
Ja, das Bild stellte eindeutig Dylora dar, Matteo erkannte sie sofort wieder. Sie hielt einen Kelch in der Hand und ein Quellbruder goss ihr aus einer Karaffe den Quell des Lebens ein.
Das war so was von abgedreht, kein Wunder, dass Nador bei diesem Spiel nicht länger hatte mitmachen wollen.
Auf einem Podest stand ein Thron – ein hoher Stuhl aus Marmor mit violetter Polsterung und kunstvoll behauenen Armlehnen. Rundbogenfenster verteilten Schleier aus goldenem Sonnenlicht über dem Thron, ganz so, als würde er von den Spots unzähliger Scheinwerfer beleuchtet.
Dann war der Kanzler wieder da und öffnete mit einem gewinnenden Lächeln beide Türflügel. »Ihre Majestät, Kaiserin Dylora.«
Sie rauschte herein und nahm auf dem Thron Platz. Matteo konnte nur auf das Kleid starren. Rot war es und es glänzte, als wäre der Stoff feucht. Wie Blut floss er in enganliegenden Bahnen an ihrem grazilen Körper herab, über ihre Schultern, ihre Arme, ihre Beine, bis über das Podest.
Ebenso auffällig war ihr weißblondes Haar. Sie trug es spiralartig aufgetürmt, bis auf einen doppelt gedrehten Zopf, der sich um ihre Schulter schlängelte. Ihre Haut war makellos und sehr blass, fast durchscheinend. Sie glich einer kostbaren Porzellanpuppe. Bei Sotheby’s hätte sie gewiss eine gute Figur gemacht.
Kanzler Gearwin verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung nach draußen. Reylan näherte sich dem Podest bis auf wenige Schritte, fiel davor auf die Knie und senkte den Kopf. Die beiden Soldaten hinter ihm folgten seinem Beispiel und rissen Lith mit sich mit. Nur Matteo blieb stehen, nachdem er für sich entschieden hatte, dass der Prinz sich seiner Mutter nicht zu Füßen werfen würde.
Sie war noch schöner als auf den Bildern. Schöner und gefährlicher. Ihre wasserblauen Augen schienen alles zu durchdringen, jede gedankliche Barriere, jede mühsam errichtete Mauer um Herz und Seele. Dabei blieb ihr Gesicht eine ausdruckslose Maske. Für Reylan, die Soldaten oder Lith hatte sie keinen Blick, sie sah nur Matteo an.
Die Zeit tröpfelte dahin, Sekunden, Minuten vergingen, ohne ein Wort.
Matteo zwang sich zur Ruhe. In ihm tobte alles, sein Atem, sein Herz
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