Der Puls von Jandur
fort.
Der Morgen brach mit rosa Wolkenzinnen über das Land, die ersten Sonnenstrahlen fächerten darunter hinweg. Am Horizont war ein Gebirgszug aufgetaucht, grau und bedrohlich, mit weiß bestäubten Gipfeln. Sie galoppierten schnurgerade darauf zu.
In Matteos Magen breitete sich ein mulmiges Gefühl aus. Er hatte die Landkarte in Nadors Zelt noch in seinem Kopf gespeichert – am Fuße jener Berge lag Wonhális, Dyloras Palast.
Von den Siedlungen hielten sie sich fern, nur einmal ritten sie durch eine kleine Stadt, weil sie an einer Brücke im Zentrum einen Fluss überqueren mussten. Es waren nur wenige Leute unterwegs, sie waren ärmlich gekleidet und huschten wie Gespenster durch die Straßen. Ihre Gesichter waren so abwesend und leer, dass Matteo sich erschrocken abwandte.
Soviel Elend , flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, die nicht ihm gehörte. Es war Khor, der da zu ihm sprach. Seit Matteo die gigantische Schlacht gesehen hatte, war ihm der Junge, dem er sein Leben verdankte, näher denn je. Und das war gut so.
Das Reiten forderte Matteos Konzentration nicht wirklich und so nutzte er die Zeit, um sich mit seinem Puls zu beschäftigen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Er konnte ihn praktisch gar nicht fühlen, da war kein glühender Energiestrang, nicht einmal ein kleines Würmchen. Höchstens ein leichtes Pulsieren und das nur mit viel Fantasie.
Wenn er die Bilder von den Smaragdflüssen wieder aufleben ließ, wenn er an die Blitze und den Sturm und an Liths Schreie dachte, wenn er sich vorstellte, dass ihn ein glühendes Schwert durchbohrte, dann flackerte ein sachtes Brennen durch seinen Soplex.
Sobald er aber auf das Bergmassiv blickte, das vor seinen Augen höher und höher in den Himmel wuchs, wurde der Funken von Übelkeit überspült. Wie sollte er seinen Puls jemals beherrschen? Wie ihn auf die Kaiserin abfeuern? Witzlos, es konnte nicht funktionieren, nie und nimmer.
Gegen Nachmittag erreichten sie die Ausläufer des Gebirges. Eine breite Straße wand sich bergan und die Barcas fielen in den Trab. Beiderseits wölbten sich Grasteppiche, dicht und saftig grün sahen sie aus, wie mit dem Rasenmäher getrimmt. Im Hintergrund erhoben sich die schroffen Felswände, in der Ferne rauschte ein Bach.
Eine leichte Brise brachte kalte Luft von den schneebedeckten Gipfeln und Matteo fror in seinem Hemd. Er war hundemüde. Seine Glieder waren tonnenschwer, sein Rücken schmerzte und sein Hintern noch viel mehr. Wann hatte er das letzte Mal geschlafen? Vorgestern. Neben Aduka in Sebastjáns Werkstatt. Eine Nacht, in der er sich wirklich sicher gefühlt hatte.
Die Antibiotika , fuhr es ihm durch den Sinn. Sebastján hatte ihm keine Tabletten mitgeben können und ob die Spritzen ausreichten, stand in den Sternen. Zumindest war der Schmerz im Arm erträglich geworden. Na ja, wen juckt’s. Wo er doch bald sein Ende im Quell finden würde.
Sie umrundeten eine mächtige Felsklippe. Dahinter öffnete sich eine Senke, in deren Mitte der Palast stand.
Überwältigt holte Matteo Luft. Wonhális war gewaltig, prachtvoll und schlichtweg zauberhaft. Ein Märchenschloss wie aus einem Disney-Film, das zur Gänze aus dunkelvioletten Mauern errichtet war. Es musste sich um eine seltene Marmorart handeln, der silbrig geäderte Stein schimmerte im Sonnenlicht. Neun schlanke Türme griffen in den Himmel, ihre Dächer spitz wie Feenhüte und weiß wie Schnee. Überall fanden sich Treppen, Brücken und Erker und unzählige weiß gerahmte Fenster, eckige, runde, hohe, große, kleine. Matteo fühlte sich wie von hundert Augen beobachtet. Bestimmt wusste die Kaiserin längst, wer da angeritten kam.
Rechter Hand, an den Berg geschmiegt, entdeckte er ein weiteres Gebäude, ganz in Weiß gehalten, mit Säulen und einem flachen Dach. Das musste der Quelltempel Eznar sein und er sah auch ganz genauso aus, wie man sich einen Tempel vorstellte.
Die Straße war nun gepflastert und das Klappern der Hufe kündigte ihr Kommen mehr als lautstark an. Sie mussten über eine Zugbrücke aus braunen Holzbohlen, durch ein riesiges Tor, vor dem ein Fallgitter in der Luft schwebte, und vorbei an etlichen in dunklem Violett uniformierten Palastwachen. Niemand hielt sie auf und fragte, was sie hier wollten, im Gegenteil: Die Soldaten standen stramm und salutierten, manch einer grüßte Reylan mit einem Kopfnicken.
Vor einer Freitreppe zu einem mit Schnitzereien verzierten Holztor machten sie halt und saßen ab. Sofort eilten Burschen herbei,
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