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Der Puls von Jandur

Der Puls von Jandur

Titel: Der Puls von Jandur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mara Lang
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meinte Matteo. Es ging gut dreihundert Meter in die Tiefe. So hoch waren sie schon im Berg?
    »Das ist es auch«, grinste sie. »Für jeden Uneingeweihten.«
    Lith rammte die rechte Hand in eine Felsspalte. Schwungvoll trat sie mit dem linken Bein ins Leere, weit über die Kante hinaus, und umarmte den Fels. In der nächsten Sekunde war sie verschwunden.
    »Komm«, erschallte ihre Stimme aus dem Nichts, »mach es mir einfach nach.«
    Einfach nachmachen . Das war leicht gesagt. So genau hatte er sie nun doch nicht beobachtet.
    »Sicher, kein Problem.« Matteo schnaufte. Aus dem Fenster einer Burg klettern, einen Schlangenläufer reiten, sich über eine Schlucht schwingen – was würde als Nächstes kommen?
    Er presste sich an den Fels. Genau wie Lith versenkte er die Finger in der Spalte. Sie war schmal, aber griffig, gerade groß genug für eine Hand.
    Und jetzt? »Wie war das noch mal? Was muss ich tun?«
    »Lass dich nach vorn fallen und steig mit dem linken Bein um den Felsvorsprung herum. Linke Hand in Schulterhöhe an den Fels, dort ist ein Stein zum Festhalten.«
    »Wenn das eine Mutprobe sein soll, dann bin ich nicht der Richtige dafür.«
    Er konnte sich noch gut an die letzte derartige Aktion erinnern: Knappe zwölf Jahre alt waren sie gewesen, Jakob und er. Sein Freund wollte unbedingt in dieser Bande mitmachen, dabei waren die Mitglieder alle viel älter. Vierzehn und fünfzehn. Natürlich gab es ein Aufnahmeritual. Eine Prüfung, die zeigen sollte, ob sie mutig genug wären und sich der Gruppe würdig erwiesen. Was für ein Schwachsinn. Auf einen abgestellten Güterwagen am Westbahnhof sollten sie klettern. Matteo weigerte sich, schließlich war er nicht lebensmüde. Das hämische Lachen der anderen klang ihm jetzt noch in den Ohren. Auch Jakob lachte, als er auf den Waggon kletterte. Zwei-, dreimal hielt er inne und winkte Matteo zu. Dann stand er oben auf dem Dach. Eine unbedachte Bewegung genügte und er geriet in den Stromkreis der Oberleitung. Es war das erste Mal, dass Matteo jemanden sterben sah. Nein, weit mehr als irgendeinen Jemand – seinen besten Freund. Noch Monate später träumte er davon, wie Jakob unter den Stromschlägen zuckte. Wie er niedersank und vom Waggon stürzte. Seit jenem Tag im Mai hatte er sich nie wieder auf eine tiefere Freundschaft eingelassen.
    »Keine Mutprobe«, beschwichtigte Lith, »nur der Weg zum Dorf. Nun komm schon.«
    Matteo schüttelte die Bilder ab, holte Schwung und glitt um den Felsen herum. Noch während er nach besagtem Stein tastete, hatte Lith ihn schon am Arm gepackt und in die Höhle gezogen. Mit zittrigen Knien holte er Luft. »Wie viele Attraktionen warten noch auf mich?«
    »Eine noch. Sie wird dir gefallen.«

Sechs
    Sie hatte nicht zu viel versprochen. Nach einem neuerlichen Marsch durch einen stockfinsteren Gang, angewiesen auf Liths eingebautes Nachtsichtgerät (beim amerikanischen Geheimdienst hätte man sicherlich großes Interesse an ihren Fähigkeiten gehabt) und wie ein Kleinkind an ihre Hand gekettet, öffnete sich unter ihnen ein idyllischer Talkessel. Er lag bereits gänzlich im Schatten, Nebelschwaden wallten die Berghänge herab, brachten Feuchtigkeit und Kälte mit sich. Winzige Tropfen glitzerten auf einem Teppich aus hellgrünem Gras und weißen Blumen, die süßlich schweren Duft verströmten. Obstbäume und Sträucher verteilten sich über die Talsohle, doch von einem Dorf konnte Matteo weit und breit nichts entdecken.
    Bis Lith an die weißen Klippen links von ihnen deutete. Unzählige Feuerbälle betupften den Fels, ihr flackerndes Licht troff wie goldfarbener Honig aus einer Bienenwabe.
    »Hier leben die Squirre«, sagte sie.
    »Sind das alles Höhlen?«
    »Ja, das System ist weit verzweigt, es erstreckt sich um das ganze Tal.« Sie übernahm wieder die Führung und stieg einen kaum erkennbaren Pfad hinab. »Vor gut hundert Jahren zog sich mein Volk hierher zurück.«
    »Warum?« Matteo kämpfte einmal mehr gegen seine schwindenden Kräfte. Rote Sterne tanzten vor seinen Augen. Wenn er nicht bald die Gelegenheit zu einer Rast bekäme, würde ihm Khors Körper zuvorkommen und sich selbst außer Betrieb setzen. Zum zweiten Mal.
    Er konzentrierte sich auf Liths blaue Schnürstiefel, stieg immer genau in ihre Tritte und betete, dass er es noch zu den Höhlen schaffte. Zumindest bis zur ersten.
    »Die Squirre wurden … nun ja, verfolgt. Hier war es sicherer für uns. Der Zugang zu den Höhlen lässt sich gut bewachen und

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